Der Merkel-Algorithmus

von Thomas Petzold

What? Wie wir fremde Sprachen übersetzen (Ausgabe II+III/2011)


Auswärtige Politik versucht, auf die Einstellungen und Meinungen der Bewohner anderer Länder Einfluss zu nehmen. Eine konventionelle Medienstrategie ist es, die einflussreichsten Tageszeitungen, Radio- und Fernsehkanäle einer Region mit Informationen zu versorgen. Zunehmend suchen Menschen ihre Informationen jedoch im Internet. Wie lässt sich auswärtige Politik am klügsten in der Internetumgebung gestalten? Wer sind die Online-Akteure, die in einer bestimmten Weltregion dominieren? Was zum Beispiel spucken Suchmaschinen in verschiedenen Ländern aus, wenn man „Merkel“ eingibt?

Suchmaschinen werden in verschiedenen Sprachen angeboten. Google etwa ist in mehr als 120 Sprachen verfügbar. Intelligente Algorithmen ermöglichen, dass auf Computern deutschsprachiger Nutzer die deutsche Version erscheint und nicht die israelische oder japanische. Das hat den Vorteil, dass Informationen in der bevorzugten Nutzersprache gesucht und angeboten werden können. Doch wie lässt sich so herausfinden, welche die wichtigsten Online-Informanten in einem bestimmten Land sind?

Eine Möglichkeit wäre, in das ausgewählte Land zu fliegen, einen Laptop vor Ort zu kaufen und diesen mit dessen landesspezifischer Spracheinstellung für eine Suchmaschinenrecherche zu nutzen. Das ist teuer und umständlich. Man kann auch nicht einfach Personen vor Ort in den Botschaften und Konsulaten die Suchmaschinenrecherche durchführen lassen. Es macht einen Unterschied, ob man im Ausland Informationen auf Computern, die in deutscher Sprache genutzt werden, sucht oder auf solchen, die in der lokalen Sprache verwendet werden. Die Suchergebnisse wären grundverschieden. Man muss also zunächst auf die gewünschte lokale Sprachidentität umstellen, dass heißt den Algorithmen im Hintergrund signalisieren, dass sich der Nutzer nicht in der deutschen, sondern zum Beispiel in der Hindi-Umgebung aufhält, als ob man sich in Nord-Indien befände. Außerdem muss man die lokale Schrift für die Eingabe des Suchbegriffs benutzen.

Indien ist ein Land mit mehr als einem Dutzend offizieller Sprachen. Englisch, Hindi, Bengalisch und Telugu werden am häufigsten gesprochen. Für all diese Sprachen bietet Google Suchmaschinen-Oberflächen an. Für den Suchbegriff „Merkel“ nimmt in allen Sprachen der Wikipedia-Eintrag zu Angela Merkel eine Top-Platzierung ein – in Englisch (für Indien) und Bengalisch auf Platz eins, in Hindi auf Platz vier und in Telugu auf Platz sieben. Es ist also ziemlich wahrscheinlich, dass Inder sich bei Wikipedia über die Bundeskanzlerin informieren. Ansonsten unterscheiden sich die Ergebnisse jedoch von Sprache zu Sprache.

Die ersten Google-Treffer in Hindi sind das indische Online-Portal Oneindia.in, die Hindi-Version der weltgrößten englischsprachigen Tageszeitung The Times of India, sowie die Hindi-Sparte des russischen Rundfunk-Auslandsdienstes Stimme Russlands. In Bengali ist die Stimme Russlands ebenfalls unter den wichtigsten Online-Akteuren zu finden, gemeinsam mit Bangladeschs größter Online-Tageszeitung bdnews24.com und der Zeitung The Daily Janakantha sowie der Deutschen Welle. Die ersten Online-Quellen, die über Angela Merkel in der Telugu-Version von Google berichten, sind die Online-Portale der Tageszeitungen Andhraprabha, Visalaandhra und Prajasakti. Außerdem sind die Telugu-Seiten von Yahoo sowie webdunia.com, einem indischen Internetunternehmen, das auf Online-Technologien für indische Sprachen spezialisiert ist, stark vertreten. In der lokalen englischen Such-anfrage schließlich erhält „Merkel“ die Toptreffer von den zwei weltgrößten englischen Tageszeitungen The Times of India und The Hindu sowie dem internationalen Nachrichtenservice Reuters und dem Online-Portal der ältesten israelischen Tageszeitung Haaretz.

Google dominiert den indischen Suchmaschinenmarkt mit 89 Prozent aller gestellten Suchanfragen. Ob sich die Kanzlerin in Indien durch den russischen Auslandsrundfunk beschreiben lassen möchte, ist auch eine Frage zukünftiger Online-Strategien der Bundesregierung. Durch Suchmaschinenoptimierung ließe sich beeinflussen, welche Webseiten in Suchergebnissen auf höheren Plätzen erscheinen. Suchmaschinen könnten deshalb zu einem wichtigen Instrument auswärtiger Politik avancieren und damit die Präsenz deutscher Politiker im Ausland ganz entscheidend mitbestimmen. Ob die russische auswärtige Politik an dieser Stelle mit ihrer Strategie schon weiter ist, könnte nur eine wissenschaftliche Untersuchung prüfen. Möglich scheint es jedenfalls.



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