Literatur | Taiwan

Sex und Politik: Die letzten Tabus in Taiwan

Im Westen wird Taiwan als asiatische Vorzeigedemokratie gesehen. Doch wie frei ist das Land wirklich? Diese Frage beschäftigt die Autorin Li Ang seit Jahrzehnten

Eine Frau mittleren Alters steht in einem Hauseingang. Die Wände bestehen aus rohen Backsteinen mit abgerissenen alten Postern. Die Schriftstellerin trägt eine schwarze Jacke mit aufgezogener Kapuze und blickt in die Kamera

Li Ang, geboren 1952 in Lukang unter dem Namen Shih Shu-tuan, gilt als eine der bekanntesten Stimmen in der Literatur Taiwans.

Taiwan gilt vielen als positives Beispiel für Meinungsfreiheit in Asien, insbesondere neben dem Giganten China. Doch auch wenn wir Taiwanerinnen und Taiwaner uns politische Freiheiten und die Demokratie erkämpft haben, heißt das noch lange nicht, dass wir keine Schwierigkeiten mehr hätten. Ich bin Schriftstellerin und galt lange als eine der kontroversesten Stimmen des Landes. Auch heute noch, nach jahrzehntelangem Schreiben, frage ich mich, wo die Grenzen des Sagbaren liegen und was geschieht, wenn man sie überschreitet.

In Taiwan sind es vor allem die beiden Themen Sex und Politik, die stets Sprengkraft besaßen und auch heute noch besitzen. Da ich Autorin bin, möchte ich mich nicht in theoretischen Ausführungen verlieren. Ich wähle lieber Beispiele aus der Praxis, aus meinem eigenen Leben. Meine Familie gehört zu den „Benshengren“ (台灣人), den alteingesessenen Taiwanern.

Das heißt, meine Vorfahren lebten seit Generationen auf der Insel, als viele „Waishengren“ (外省人) ankamen, also nach 1945 nach Taiwan geflüchtete Chinesen. Als Chiang Kai-Shek mit seiner Kuomintang (KMT) der Kommunistischen Partei Mao Zedongs unterlag, zog er sich im Jahr 1949 nach Taiwan zurück und proklamierte dort die Regierung der Republik China.

Im Rahmen des 228-Massakers am 28. Februar 1947 und der Säuberungsaktionen der KMT-Machthaber war die einstige intellektuelle Szene Taiwans fast gänzlich abgeschlachtet worden – und diejenigen, die überlebt hatten, wurden mundtot gemacht. Als ich 1952 zur Welt kam, galt das Kriegsrecht und die KMT hatte ihre Einparteienherrschaft etabliert. Was ich während meiner Schulzeit lernte, stammte aus der Feder der Festlandchinesen. Wir büffelten die Klassiker der chinesischen Philosophie und Lyrik, alles Taiwanische war verpönt.

„Ich musste schnell erfahren, dass ich nicht ungestraft aus weiblicher Perspektive über Sexualität schreiben konnte“

Ab den 1968er-Jahren machten sich weltweit die Hippies auf den Weg, doch im Taiwan meiner Jugend konnte ich mein eigenes Rebellentum nur beim Schreiben ausleben. Mit 16 veröffentlichte ich eine erste Kurzgeschichte mit dem Titel „Blütenzeit“ (花季). Sie fand große Beachtung. Darin schilderte ich zwischen den Zeilen versteckt das Erwachen weiblicher Sexualität, was damals noch als großes Tabu galt.

Ich las in dieser Zeit viel von Sigmund Freud und von einigen Existenzialisten. Sicherlich hat das meine Art zu schreiben beeinflusst. In meinem Roman „Der Gattenmord“ (殺 夫) schilderte ich später all die Verletzungen und Gewalttätigkeiten, unter denen Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft und einem System der sexuellen Unfreiheit zu leiden haben.

Ich musste jedoch schnell erfahren, dass ich nicht ungestraft aus weiblicher Perspektive über Sexualität schreiben konnte. Immer wieder hielt man Schmähreden auf mich, beschimpfte und beleidigte mich und griff sogar meine Familie an. In den Augen der Menschen galt ich als Autorin, die bewusst Kontroversen provoziert.

Um mich zu erniedrigen, schickten mir Leser Damenslips per Post. Damit wollten sie andeuten, ich würde mit so vielen Männern schlafen, dass ich häufiger mal die Unterhose wechseln müsse. Selbst an der Universität, an der ich damals lehrte, taten sich meine Kollegen gegen mich zusammen. Ihr Vorwurf: Ich propagiere hemmungslosen Sex, Gewalt und Triebhaftigkeit; so jemand wie ich solle nicht an einer Hochschule unterrichten dürfen.

„Weil ich in Taiwan lebte, wurden meine Bücher verrissen“

In Meinungsbeiträgen der großen Zeitungen wurde ich zur Kommunistin abgestempelt. Demnach sei ich unmoralisch und wolle die taiwanische Gesellschaft zerstören, damit die chinesischen Kommunisten ein umso leichteres Spiel hätten, wenn sie Taiwan angreifen würden.

Ich las jede Menge Bücher aus dem Westen und machte in den USA meinen Master in Theaterwissenschaften. Das, worüber ich schrieb, war in der westlichen Literatur schon lange kein Tabu mehr. Doch weil ich in Taiwan lebte und Sexualität hier sehr viel kontroverser aufgefasst wurde, wurden meine Bücher verrissen.

Aber meine Wurzeln sind nun einmal in Taiwan, in dieser ganz besonderen Kultur und Tradition. Durch die verschiedenen Facetten meiner Bildung bin ich zu einer Art „Bastard“ geworden, ich vereine das Westliche, das Taiwanische und das Festlandchinesische in mir. Viele Menschen argwöhnten hinter meinem Rücken, dass eine Autorin, in deren Büchern es so häufig um Sex geht, bestimmt selbst mit unzähligen Männern schläft. Darum schauten einige Männer auf mich herab oder fragten mich naserümpfend, ob sie es mir auch einmal „so richtig besorgen“ sollten.

In meiner Jugend konnte ich mich gegen solche Angriffe nicht zur Wehr setzen. Erst als ich wesentlich älter war, hatte ich genug Selbstbewusstsein, um zu antworten: „Ja, ich habe mit vielen Männern geschlafen. Aber auf so einen Typen wie dich habe ich nicht die geringste Lust.“ Erst als ich mich nicht mehr bemühte, anderen meine Unbeflecktheit zu beweisen, erst als ich verstand, mich zu wehren, erlangte ich wahres Selbstwertgefühl.

„Erst als ich verstand, mich zu wehren, erlangte ich wahres Selbstwertgefühl“

Ich schrieb weiterhin in meinem Stil. Trotz aller Kritik habe ich daran geglaubt, dass das, was ich schreibe, künstlerisch wertvoll ist. Doch was ich selbst lange nicht verstehen konnte, ist, warum meine Texte oft so maßlos düster sind. Meine Autorenfreunde nennen mich darum bis heute „die dunkle Li Ang“.

Ein Beispiel: Als ich „Die sichtbaren Geister“ (看得見的鬼, 2004) verfasste, entsprang meinem Hirn eine extrem grausame Folterszene. In dem Roman steht eine aufrührerische Prostituierte, eine Indigene aus dem Stamm der Babuza, vor Gericht. Der rechtsprechende Mandarin befiehlt, der Frau zehn tiefe Schnitte in den Unterleib zuzufügen.

Die Wunden sollten aussehen wie zehn künstliche Vulven, um die Frau wegen ihres Berufs zu demütigen – nur eine Vulva reiche bei so einer verdorbenen Frau nicht aus. Zusätzlich sollten ihre Brüste aufgeschnitten und mit Fleisch aus ihrem Unterleib gefüllt werden, damit sie den „Riesentitten“ einer Prostituierten entsprächen. So wird die Frau in meinem Roman langsam zu Tode gequält.

Wie hatte etwas derartig Bestialisches in meinem Kopf Form annehmen können? Wie konnte ich so etwas auch noch zu Papier bringen? Ich entstamme einer traditionellen, „heilen“ Familie. Die Geschäfte meines Vaters liefen sehr erfolgreich. Als jüngstes Kind der Familie wurde ich von allen verhätschelt.

„So, wie ich jahrzehntelang gegen die Prüderie anschreiben musste, so musste ich mich auch gegen die politischen Umstände wehren“

Lange dachte ich, dieser düstere Teil meiner Kreativität rühre daher, dass wir Frauen in der Vergangenheit die Zwänge der männlichen Vorherrschaft ertragen mussten und dass das tief sitzende Narben in uns hinterlassen hat.

Doch mittlerweile glaube ich, dass alle meine Themen der Gesellschaft entstammen, in der ich lebe. Und so, wie ich jahrzehntelang gegen die allgemeine Prüderie anschreiben musste, so musste ich mich auch gegen die politischen Umstände wehren, die Tatsache, dass uns Taiwanerinnen und Taiwanern die Selbstbestimmung verweigert wurde.

In den 1970er- und 1980er-Jahren beteiligte ich mich am Widerstand der taiwanischen Dissidenten gegen die Diktatur Chiang Kai-Sheks. Zwar stand ich nicht an vorderster Front (denn ich sah mich hauptsächlich als Autorin), aber ich steuerte Geld und Energie bei. Zusammen mit vielen Genossinnen und Genossen erstritten wir, dass das Kriegsrecht, mit dessen Hilfe die KMT fast vierzig lange Jahre ihre Herrschaft auf der Insel ausübte, im Jahr 1987 aufgehoben wurde. Wir erstritten, dass Taiwan so frei und so demokratisch wurde, wie es jetzt ist.

Man sollte meinen, Sexualität wäre mittlerweile kein kontroverses Thema mehr. Immerhin hat Taiwan im Jahr 2019 als erstes Land Asiens die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert. Die jüngeren Generationen machen uns Ältere, etwa in Theaterperformances und durch Literatur, mit allen möglichen Spielarten der Sexualität vertraut, ohne dafür abgestraft zu werden.

„Doch sind in Sachen Erotik wirklich alle Hüllen und Tabus gefallen?“

Doch sind in Sachen Erotik wirklich alle Hüllen und Tabus gefallen? Ich habe den Eindruck, dass die sexuellen Bedürfnisse älterer Frauen immer noch tabuisiert werden. In meinem Roman „Sex mit einem schönen Mann“ (睡美男) habe ich mich damit auseinandergesetzt.

Auch in meinen langjährigen Zeitungskolumnen, etwa in der ”Taiwan Times“, habe ich Frauen immer dazu ermutigt, sich emotional und finanziell aus Abhängigkeiten zu befreien und auf eigenen Füßen zu stehen. In letzter Zeit treffe ich häufiger Frauen, die mir erzählen, wie viel Energie sie durch meine Kolumnen gewinnen konnten.

Wie ich schon sagte, galt ich im Lauf meiner Karriere als Schriftstellerin lange als das Enfant terrible. Oft wurde mir vorgeworfen, dass ich mich in meinen Romanen absichtlich mit umstrittenen Themen wie Sexualität und Gewalt befasse, um Aufsehen zu erregen und berühmt zu werden.

Wie läuft es nun für eine wie mich, da wir in einer freien und aufgeschlossenen Zeit angekommen sind, in der viele Tabus vermeintlich nicht mehr existieren? Wenn man mir diese Frage stellt, gebe ich gerne eine Anekdote zum Besten: In den 1990er-Jahren war ich zu einem Vortrag an der Universität Heidelberg eingeladen. Eine hochintelligente Doktorandin fragte mich: „Worüber schreiben Sie Ihre Romane, wenn eines Tages nichts mehr tabu ist in Ihrem Land?“

„Heute bekomme ich keine Damenslips mehr per Post“

Damals war ich noch eine junge Schriftstellerin. Ich war recht kämpferisch und behauptete: „Es existiert keine Gesellschaft, in der es keine kontroversen Themen gibt. Erst wenn wir ein Tabu ansprechen und die Reaktionen darauf erleben, erkennen wir, wo unsere Probleme liegen.“

Heute kann ich über Sex so viel schreiben, wie ich will, ich bekomme keine Damenslips mehr per Post. Doch ein anderes Tabu gibt es noch immer: Politik. Auch wenn Taiwan jetzt so frei und demokratisch daherkommt und alle vermeintlich alles, was sie sagen wollen, auch sagen können, bedeutet das noch lange nicht, dass wir es auch tun.

In unserem Innersten wissen wir, was wir mit unserem gesprochenen Wort und in besonderem Maße mit unserem geschriebenen Wort auslösen können.

Im Jahr 2023 geht es in Taiwan nicht mehr darum, dass man uns verhaftet und einsperrt oder dass die eigenen Werke zensiert und verboten würden. Nein, heute besteht die Gefahr darin, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, wenn man sich zu einer politischen Realität der Vergangenheit unklar äußert.

„Oft spaltet die Frage der politischen Überzeugung Familien und Freundeskreise“

Wenn wir über Politik sprechen, nehme ich eine tiefe Spaltung der taiwanischen Gesellschaft wahr. Der Riss verläuft entlang der Frage, ob unsere Nation nun wahrhaftig unabhängig sein sollte oder ob wir auf die Einheit mit Festlandchina zielen sollten. Doch diese Frage wird nicht offen erörtert. Warum wird nicht publik gemacht, was die Konsequenzen des einen oder des anderen Schrittes wären? Es kann doch nicht sein, dass wir die Erörterung dieser Frage unwichtig finden!

In den vergangenen dreißig Jahren schlug die Trennung in zwei Lager, die Anhänger der Taiwanisation (台灣本土派) und jene der Pro-China-Fraktion (親中國派), bereits eine tiefe Kerbe in die Gesellschaft. Oft spaltet diese Frage Familien und Freundeskreise. Darum reden wir nicht darüber. Auch wenn wir doch alle voneinander wissen, welcher politischen Lösung wir jeweils zuneigen.

Genau die Sprachlosigkeit in Bezug auf ein Thema, genau das Umschiffen und Auslassen erhellender Fakten zeigt an, dass wir es mit einem Tabu zu tun haben. Ein Tabu, das wir tief versteckt am Grunde unseres Herzens verwahren. Auch ich habe mich dieser Frage in keinem meiner Werke gewidmet.

Ich werde gefragt, ob ich in meinen Romanen der Wahrheit auf der Spur bin. Ich stelle die Gegenfrage: Was ist die Wahrheit? Ich möchte sie zu Papier bringen. Trotzdem scheint mir, dass sich die Suche nach der Wahrheit schwierig gestaltet. Deine Wahrheit ist nicht meine Wahrheit, und meine Wahrheit ist nicht deine.

Ich schreibe weiter.

Aus dem Chinesischen von Martina Hasse