Demokratie | Mexiko

Meine Präsidentin

Mexiko hat gewählt: Zum ersten Mal in der Geschichte wird mit Claudia Sheinbaum eine Präsidentin das Land führen. In ihrem feministischen Manifest formuliert Schriftstellerin Gabriela Jauregui ihre Anforderungen an die künftige Präsidentin. Die wichtigste: Dass sie den Alltag der Menschen wirklich kennt

Die mexikanische Schriftstellerin Gabriela Jauregui

Ich will eine Präsidentin, einen Präsidenten oder – da politische Repräsentation mit Blick auf die Geschlechtsidentität immer nur der Anfang, nie das Ende des Kampfes sein kann – auch ein* Präsident*. Ich will eine Präsidentin, die über Gender Bescheid weiß und nicht glaubt, dass sie, nur weil sie eine Vulva hat, nur weil sie eine Frau ist, anders oder gar besser sei. Das wäre essentialistisch und naiv. Frauen, ob Präsidentinnen oder nicht, sind nicht von Natur aus gut, wer dies glaubt, vergisst, dass es dieses nekrokapitalistische System ist, das – egal, wer die Macht innehat – viele Arten von Gewalt ermöglicht, begünstigt und fördert. Ich will eine Präsidentin, die ihre Wahlversprechen hält. Eine Präsidentin, die versteht, dass es nichts nützt, Bezeichnungen und Abkürzungen zu ändern.

Ich will, dass das System, das dazu dient, die Scheiße zu reproduzieren, die es angeblich verhindern soll, zusammenbricht. Deshalb will ich eine Präsidentin, die neue Machtstrukturen schafft. Die dient statt sich zu bedienen. Die weiß, dass das Machtzentrum nicht sie ist, sondern die Menschen, die sie repräsentiert. Dass es nicht so sehr auf Option X oder Y ankommt, sondern auf ein anderes Verständnis von Politik. Ich will eine Präsidentin, die nicht das kleinere Übel ist. Ich will eine Regierungschefin, die ihre alten Eltern gepflegt hat. Eine Präsidentin, die Windeln wechseln kann. Die weiß, was es heißt, sich nächtelang um eine kranke Tochter zu kümmern.

„Ich will eine Präsidentin, die keine Zahlen frisiert. Die erfahren hat, was es heißt, Hunger zu haben“

Ich will eine Präsidentin, die den Mut hat, das Militär in die Kasernen zurückzuschicken. Eine, die nicht den Opfern von Feminiziden die Schuld an ihrem Tod gibt oder sagt, dass Hunderte Jugendliche ermordet wurden, weil sie „in irgendwas verwickelt waren“. Ich will eine Präsidentin, die weiß, dass eine Flagge ein Lumpen ist, in dessen Namen zu viele Gewalttaten begangen werden. Meine Präsidentin soll Spanisch und Englisch sprechen, klar, aber auch eine der 68 indigenen Sprachen dieses Landes. Ich will eine Präsidentin, die Krebs überlebt hat und die weiß, was medizinische Unterversorgung bedeutet. Sie hat heimlich abgetrieben. Sie ist pansexuell. Sie hat Mais gesät und geerntet, hat erfahren, wie hart die Feldarbeit ist. Ich will eine Präsidentin, die zur Stoßzeit in Pantitlán umsteigen musste, die weiß, was es heißt, im Bus überfallen zu werden und den Wochenlohn oder das Handy zu verlieren, und nicht nur einmal, sondern immer wieder.

Ich will eine Präsidentin, deren Bruder seiner Freiheit beraubt wurde und die Schlange gestanden hat, um ihn im Gefängnis zu besuchen. Ich will eine Präsidentin, die schon oft stundenlang Schlange gestanden, sich aber nie vorgedrängelt hat. Ich will eine Präsidentin mit Krampfadern. Eine, die aus ihrem Heimatort vertrieben wurde: entweder von Drogengangs oder durch Wassermangel in ihrer Gemeinde oder durch die Schergen eines Bergbauunternehmens, die sie mit Gewehrkolben geschlagen haben. Ich will eine Präsidentin, die ihre Politik daran ausrichtet, welche Auswirkungen sie auf die siebte Generation nach uns haben wird. Eine, die allergisch gegen ein System ist, in dem alle nur in die eigene Tasche wirtschaften. Die ihre verschütteten Verwandten unter dem Einsatz von Hacken, Schaufeln, Metallstangen und den eigenen Fingernägeln gesucht hat, denn eine Präsidentin, die davon nichts weiß, ist gleichgültig.

Ich will eine Präsidentin, die keine Zahlen frisiert. Die erfahren hat, was es heißt, Hunger zu haben. Die weiß, dass die Wahl einer Frau zur Präsidentin noch kein Erfolg des Feminismus ist, solange sie keinen Rahmen schafft, in dem wirklich Rechenschaft und Verantwortung eingefordert werden, nicht nur für das, was Frauen passiert. Ich will eine Präsidentin, die weiß, dass das Leben und nicht irgendwelche Machtfragen ihre Politik bestimmen sollte. Ich will eine Präsidentin, der klar ist, dass die Punkte auf dieser langen Wunschliste nicht nur Teil ihrer Identität sind, sondern auch Antrieb in ihren Kampf für eine Veränderung dieses Landes, für eine bessere Welt.

Gabriela Jauregui: „Mi presidenta“, inspiriert von dem Gedicht „I want a president“ der amerikanischen Künstlerin Zoe Leonard (1992) 
© Gabriela Jauregui

Aus dem Spanischen von Laura Haber