Social Media | Essay

Spieglein, Spieglein

Wir verbringen viele Stunden mit Social Media und fotografieren Tausende von Selfies, doch selbstbewusster macht uns das nicht. Die britische Therapeutin Sally Baker rät zu weniger Selbstbespiegelung und mehr „echtem“ Kontakt zu anderen Menschen

In den vergangenen Jahren wurden wir durch Smartphones, Selfie-Kameras und Videotelefonie immer öfter mit unserem digitalen Spiegelbild konfrontiert. Laut einer Studie des Magazins „Social Psychological and Personality Science“ werden weltweit bis zu 92 Millionen Selfies am Tag aufgenommen.

Schätzungen besagen, dass ein Millennial bis zu seinem Lebensende 25.700 Selfies aufgenommen haben wird. Diese ständige Selbstbespiegelung in High Definition mag zunächst glamourös erscheinen, führt aber beinahe zwangsläufig zu mangelndem Selbstbewusstsein und Besessenheit vom eigenen Aussehen.

Diese ständige Form der Selbstüberwachung stellt eine außerordentliche psychologische Belastung dar und lenkt permanent von sinnvolleren Beschäftigungen ab. Verstärkt wird dieser Prozess dadurch, dass unsere Kultur immensen Wert auf körperliche Attraktivität legt, was viele dazu veranlasst, Selbstwert mit Schönheit gleichzusetzen.

„Überbetonung des Aussehens führt jedoch oft zu Leere, Angst und Unzufriedenheit“

Die Überbetonung des Aussehens führt jedoch oft zu Leere, Angst und Unzufriedenheit. Als Therapeutin erkunde ich die innere Landschaft des Menschen, unsere Gefühle, Bedürfnisse, Wünsche und Ängste. Bei meinen Patientinnen und Patienten kann das dazu führen, dass ihr Selbstbild nicht mehr exklusiv von der äußeren Welt der Erfahrung dominiert wird.

Studien belegen, dass eine (Selbst-)Begrenzung der Zeit, die wir mit dem Blick in den Spiegel, mit Selfies und Videotelefonaten verbringen, dabei helfen kann, unser Wohlbefinden deutlich zu verbessern. Immerhin verbringen Internetnutzer laut Studien weltweit täglich knapp zweieinhalb Stunden in sozialen Netzwerken. Das sind 864 Stunden oder 36 Tage im Jahr.

Indem wir diese Zeit reduzieren, verringern wir den Druck auf uns selbst, immer makellos aussehen zu müssen. Wenn wir uns ständig im Spiegel oder auf dem Bildschirm ansehen, beschäftigen wir uns schnell mit unseren unbedeutendsten Makeln: mit Falten, nicht glatt liegenden Haaren oder vermeintlichen Hautunreinheiten. Das raubt Zeit und Kraft.

Was zunächst naheliegend klingt, scheint vielen Menschen aber immer schwerer zu fallen, was sicher auch an den sich während der Pandemie etablierten Arbeitsbedingungen und -applikationen sowie einer verstärkten Nutzung von Social Media liegt.

Laut einer Statistik von Microsoft haben sich die durchschnittlichen Wochenstunden, die Menschen mittels des Programms „Teams“ in Onlinemeetings verbringen, von Februar 2020 bis Sommer 2022 um 252 Prozent gesteigert. In der Therapie arbeiten wir daran zu vermitteln, dass unser Wert eben nicht durch unser Aussehen oder unser Auftreten in der Öffentlichkeit bestimmt wird.

„Vermeidung ständiger Selbstbeobachtung ermöglicht uns, geistig mehr im Augenblick präsent zu sein“

Indem wir eine übermäßige Selbstbeobachtung vermeiden, können wir unser Selbstbild von der Reflexion und Bewertung durch die Außenwelt entkoppeln. So entwickelt sich ein stärkeres Identitätsgefühl, das auf inneren Qualitäten wie Mitgefühl, Integrität und Mut beruht.

Die Vermeidung ständiger Selbstbeobachtung ermöglicht uns außerdem, geistig mehr im Augenblick präsent zu sein. Wenn wir ständig abgelenkt sind, können wir uns nicht voll auf andere einlassen. Anstatt ein Gespräch zu genießen, machen wir uns bei einem Videoanruf Gedanken darüber, wie wir aussehen; anstatt aufmerksam zuzuhören, planen wir, in welcher Selfiepose wir am besten aussehen.

Wenn wir unsere Aufmerksamkeit von uns selbst ablenken, fördert das echte menschliche Beziehungen. Wenn wir uns von der Last der ständigen Selbstdarstellung befreien, kann es gelingen, erfüllter zu sein und weniger oberflächlich zu leben.