Indigenes Leben | Neuseeland

Überfälliges Comeback

New Plymouth liegt auf der Nordinsel Neuseelands, und bevor die Briten kamen, lebte hier schon lange die Maori-Gemeinschaft Te Ātiawa. Jetzt ist sie endlich auch im Stadtbild wieder präsent
Aun einer ruhigen Straßenecke schauen wir auf die Stirnwand eines Neubaublocks. Darauf ist als Wandbild das Porträt einer Frau gemalt, von leuchtenden Farben umrahmt. Auf dem Bürgersteig stehen Blumenkübel, aber auch Baustellen-Equipment herum

Die Māori-Aktivistin Hana Te Hemara brachte 1972 eine Petition in das neuseeländische Parlament, um die Sprache der Maori zu schützen. Fünfzig Jahre später schuf der Künstler Graham Hoete dieses Wandbild und erinnerte an die Aktivistin und ihre Mitstreiter

Im Februar dieses Jahres war ich bei der Eröffnung des „Ngāmotu House“ in New Plymouth auf der Nordinsel Neuseelands. Bislang diente es als Bürogebäude und hieß „Atkinson Building“, nach einem britischen Siedler und späteren Premierminister Neuseelands, der unter anderem dafür bekannt wurde, dass er im 19. Jahrhundert für die Enteignung indigenen Landes kämpfte. Jetzt ist das Gebäude der neue Hauptsitz des Maori-Stammes, dem meine Familie angehört, Te Ātiawa. Jungen im Alter von zehn Jahren spielten überall im Haus auf traditionellen Taonga-Pūoro-Flöten, um die Räume zu segnen, während die Frauen dazu sangen.

„Man hat das Gefühl, dass die Maori die Stadt gewissermaßen re-indigenisieren“

Jedes Mal, wenn ich von Berlin, wo ich lebe, nach Aotearoa, also Neuseeland zurückkehre, staune ich, wie die Sprache und Kultur der Maori überall in der durch Weiße geprägten Gesellschaft wieder auftaucht. New Plymouth, eine Stadt von 60.000 Einwohnern, heißt in der Sprache der Maori „Ngāmotu“, nach dem indigenen Namen der in der Nähe liegenden Sugar Loaf Inseln. Hier hat man das Gefühl, dass die Maori-Bevölkerung die Stadt gewissermaßen „re-indigenisiert“ und damit unseren Geschichten und unserer Identität mehr Geltung verschafft.

Seit Jahrtausenden haben meine Vorfahren das Gebiet um unseren großen Berg Taranaki bewohnt, einen fast perfekt kegelförmigen Vulkan, der über der Landschaft thront. Auch wenn ich nicht hier aufgewachsen bin, waren die Besuche bei meiner Familie immer eine Gelegenheit, Kraft aus seiner Gegenwart zu schöpfen. Wenn wir uns in der Maori-Sprache vorstellen, nennen wir zuerst den Berg unserer Vorfahren, dann den Fluss oder das Meer unserer Heimat, dann unser Dorf, dann unsere Familie und schließlich uns selbst. Daher kommt mir zuerst der Taranaki in den Sinn, wenn ich über unsere Identität nachdenke. Seine ikonische Form spielt auch in unserer Kunst und unserem Design eine wichtige Rolle.

Unweit von New Plymouth findet sich die Gemeinde Parihaka. Sie geht auf eine pazifistische Widerstandsbewegung der Maori zur Zeit der Landkriege gegen britische Siedler zurück. Im Hintergrund der Vulkan Taranaki, der über der gesamten Region thront

Vor zehn Jahren einigten sich Vertreter der Te Ātiawa vertraglich auf einen Vergleich mit der neuseeländischen Regierung. Darin ging es um den Grund und Boden, den man unserem Volk gestohlen hatte, und die Folgen, die die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen über Generationen hinweg hatte.

Die Vereinbarung beinhaltete eine bescheidene finanzielle Entschädigung – sehr wenig im Vergleich zum Wert des geraubten Landes, aber immerhin genug, um eine neue wirtschaftliche Grundlage aufzubauen. Te Ātiawa gründete eine kommerzielle Einheit, die sich in New Plymouth zu einem wichtigen Akteur in der Immobilienszene entwickelt hat. Sie unterstützt Stammesmitglieder dabei, durch eine Art genossenschaftliches Modell Wohneigentum zu erwerben.

Darüber hinaus hat die Firma Investitionen getätigt, deren Gewinne in unser gemeinsames Projekt fließen: die Benachteiligung, die viele unserer Leute über Generationen hinweg erfahren haben, auszugleichen und ihnen etwa durch Ausbildungs-Stipendien eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

„Unsere Immo­bilienfirma hat Investitionen getätigt, deren Gewinne in unser gemeinsames Projekt fließen“

Die Siedlung New Plymouth entstand in den 1840er-Jahren. Bald danach begannen die britischen Kolonisten regelrechte Kriege, um die in der Region ansässigen Maori zu vertreiben und ihr Land an sich zu reißen. Bis heute erinnern zahlreiche Straßennamen, Gebäude und Denkmäler an jene Männer, die unsere Vorfahren töteten und sie ihrer Heimat beraubten – etwa an den schon erwähnten Harry Albert Atkinson.

In den 1860er-Jahren führte er eine Truppe von Freiwilligen im Kampf gegen die Taranaki-Maori an, später wurde er sogar Premierminister Neuseelands. Als kürzlich das nach ihm benannte „Atkinson Building“, ein modernes Bürogebäude, zu haben war, machte unser Stamm von seinem Vorkaufsrecht Gebrauch. Wir entschieden uns, das Gebäude zu kaufen und umzugestalten. Jetzt dominiert der Umriss des Vulkans Taranaki die Fassade des Gebäudes.

Die fragilen Muster an der Frontseite spielen auf die Webkunst an, für die unser Stamm bekannt ist. Mit dem neuen Design und dem neuen Namen steht das Bauwerk dafür, dass unser Stamm wieder ein Faktor im gesellschaftlichen Leben der Stadt ist, wirtschaftlich wie kulturell.

„Viele Neuseeländer wünschen sich, dass Maori neben Mathematik und Englisch als Kernfach in den Grundschulen unterrichtet wird“

Lasst uns zusammen die Sprache lernen! In der Billow Bakery in New Plymouth können die Gäste den Kaffee auch in der Maori-Sprache bestellen

Nur ein paar Schritte entfernt, an der Hauptstraße von New Plymouth, stößt man auf eine schmale Gasse voller Street Art. Nach dem Erdbeben von 2011 waren in Christchurch provisorische Unterkünfte gebaut worden. Als sie nicht mehr gebraucht wurden, fanden einige Container ihren Weg nach New Plymouth, wo man sie dafür nutzte, kleinere Läden und Cafés einzurichten.

Heute beherbergt das Quarter-Bank-Viertel etliche Galerien und eine schicke Bäckerei, die Billow Bakery. Als ich dort ankomme, sind die Teigwaren schon lange weg, aber ich freue mich über eine Tafel, die die Kunden auffordert, auf Maori zu bestellen. „Kawhe mōwai“ ist ein Flat White, erhältlich auch mit „ōti“ (Hafermilch). Die Mitarbeiterin berichtet, dass der Chef gerade die Sprache lernt und man so mit Kunden, die sie beherrschen, ins Gespräch kommen will, auch um ein wenig zu üben.

Die Sprache, mit der mein Großvater hier in der Nähe aufwuchs und die man ihm in den 1930er-Jahren in der Schule verbot, blüht heute wieder auf. Während im Jahr 2006 knapp 24 Prozent der Maori eine einfache Unterhaltung in ihrer Sprache führen konnten, sind es laut den neuesten Daten von 2022 schon 34 Prozent; und drei von fünf Neuseeländern wünschen sich, dass Maori neben Mathematik und Englisch als Kernfach in den Grundschulen unterrichtet wird.

Mittlerweile werden auch zahlreiche Kurse für Erwachsene angeboten. Maori wie auch Nicht-Maori melden sich an, um die erste Sprache unseres Landes zu lernen. Wegen des großen Andrangs gibt es mittlerweile schon Wartelisten und man diskutiert, ob die Maori Vorrang dabei bekommen sollten, als eine Art Geburtsrecht.

Dass unsere Sprache die Assimilationspolitik des letzten Jahrhunderts überlebt hat und heute eine Renaissance erfährt, haben wir der Frau zu verdanken, die ganz in der Nähe mit einem großen Wandbild geehrt wird: Hana Te Hemara. 2022 erhielt der Künstler Graham Hoete den Auftrag für das Porträt. Anlass war der fünfzigste Jahrestag einer Petition, die diese Frau aus Taranaki 1972 zusammen mit einer Gruppe Maori-Aktivisten beim Parlament einreichte: die Forderung, dass unsere Sprache in den Schulen unterrichtet werde.

Das frühere „Atkinson Building“ hat eine neue Fassade bekommen: die Triangelform über dem Eingang erinnert an den Vulkan Taranaki

Im Haar trägt Hana „Raukura“, Albatrosfedern, die im 19. Jahrhundert eine besondere politische Bedeutung für die Frauen von Taranaki hatten. Sie trugen sie als Zeichen der gewaltfreien Widerstandsbewegung, die im nahe gelegenen Dorf Parihaka entstanden war.

Als Reaktion auf die verheerenden Verluste unter den Māori gründeten in den 1860er-Jahren zwei spirituelle Māori-Führer, Te Whiti o Rongomai und Tohu Kakahi, das Dorf Parihaka als eine Art pazifistische Antwort auf die anhaltende mörderische Landnahme. Der Grund und Boden rund um den Ort war bereits für die Europäer vermessen worden. Doch die beiden Māori ermutigten ihre Anhänger, das Land friedlich zu bewirtschaften, um ihre Verbundenheit damit zu demonstrieren. Man legte Gärten an, pflügte die Erde und errichtete Zäune – sehr zum Verdruss der Regierung.

Hunderte von Parihaka-Anhängern wurden verhaftet, einige gar monatelang ohne Gerichtsverfahren festgehalten. Der gewaltlose Widerstand veranlasste damals die neuseeländische Regierung und Presse, die Mitglieder der Parihaka-Friedensbewegung als „Fanatiker“ zu beschimpfen. Diese Auseinandersetzungen zwischen Māori und Siedlern gehören längst der Vergangenheit an, doch der pazifistische Geist der Bewegung lebt bis heute fort, wie ich kürzlich bei einer Dorfversammlung erfahren habe, die seit den 1860er-Jahren jeden Monat stattfindet.

In Parihaka wurde ich daran erinnert, dass unser Volk zwar neue Wege geht, um seine Rechte und seinen Stand in unserem Heimatland zu stärken, dass wir aber auch immer versucht haben, uns mit anderen indigenen „Schicksalsgefährten“ und Menschen, die von Ungerechtigkeit betroffen sind, zu vernetzen.

Schon die erwähnten Gründer des Dorfes, Te Whiti o Rongomai und Tohu Kakahi, lasen trotz ihrer Verwurzelung in den Traditionen regelmäßig internationale Zeitungen, um sich über die Entwicklungen im Kampf gegen den Kolonialismus zu informieren. Das Bedürfnis, internationale Verbindungen zu pflegen, gibt es bis heute.

Auf dem Parihaka-Treffen, bei dem ich war, wurde auch über Palästina diskutiert und die Frage, wie man der Vertreibung und Tötung der Zivilbevölkerung ein Ende setzen kann. Eine Verwandte von mir saß auf dem Boden unseres Versammlungshauses und hörte den Ältesten zu, während ihre siebenjährige Tochter ihrer Mutter behutsam die Kufiya vom Hals zog und sie sich um die Schultern legte.

Wenn man länger in einer Großstadt wie Berlin gelebt hat und in sein Heimatdorf zurückkommt, kann es einem manchmal so vorkommen, als sei dort alles kleiner geworden. Aber hier in Taranaki stellt sich bei mir ein Gefühl der Weite ein. Die Menschen hier inspirieren mich auch dahingehend, dass sie unser Erbe zu bewahren versuchen und sich zugleich kritisch mit globalen Entwicklungen auseinandersetzen.