„Geburtenstreik“ in Südkorea

Foto: Bas Losekoot
Erst vor Kurzem wurde ein beliebter, siebenstöckiger Festsaal in einem Vorort von Seoul, in dem einst mehr als zehn Hochzeiten gefeiert wurden und in dem sich Woche für Woche Tausende von Gästen tummelten, in eine ambulante Pflegeeinrichtung umgewandelt. Ganz in der Nähe hat man ein gelb gestrichenes Kindergartengebäude, in dem einst fast hundert Mädchen und Jungen untergebracht waren, zu einer Seniorenresidenz umfunktioniert.
Die Beispiele stehen für einen landesweiten Trend: In ganz Südkorea haben in den letzten Jahren Hunderte von Ballsälen, Kindertagesstätten und Kindergärten mangels Kundschaft geschlossen oder wurden zu Pflegeheimen – viele Koreaner nennen sie „Kindergärten für ältere Menschen“ –, weil immer weniger Menschen heiraten und Kinder bekommen.
Dies ist eine Momentaufnahme einer Gesellschaft, die die niedrigsten Geburtenraten der Welt hat und deren Bevölkerung schneller altert als in allen anderen Ländern. Die Zahl der registrierten Eheschließungen wie auch Geburten ist jahrelang gesunken und liegt nun auf einem historischen Tiefstand: 2023 brachte eine Südkoreanerin durchschnittlich 0,72 Kinder in ihrem Leben zur Welt – weit unter dem weltweiten Durchschnitt von 2,3 oder dem deutschen von 1,5 Kindern je Frau. Und es wird erwartet, dass die Zahl 2024 auf ein weiteres Rekordtief von 0,68 sinkt.
Das Phänomen, das in Südkorea oft als „Geburtenstreik“ beziehungsweise „Heiratsstreik“ bezeichnet wird, ist für Mimi Kim, eine Seouler Büroangestellte mit Mitte Dreißig, alles andere als überraschend. In Südkorea sei „Warum heiraten Frauen nicht und bekommen keine Kinder?“ nicht die richtige Frage, sagt sie. „Warum sollten sie heiraten und Kinder bekommen?“, wäre, so Kim, „in Anbetracht der Lage“ die passendere. Auch sie ist eine der sogenannten „Heiratsverweigerinnen“, die sich gegen Ehe und Kinder entscheiden.
Mit „Lage“ meint sie die tief verwurzelte Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, die immer noch das Familienleben und die notorisch männerdominierte Unternehmenskultur prägt und den Ruf Südkoreas als wirtschaftliches, technologisches und auch kulturelles Kraftzentrum Lügen straft.
„Ich habe schlicht das Gefühl, dass zu heiraten oder ein Kind zu kriegen keine sehr kluge Entscheidung für eine Frau ist“
Auch in Familien mit doppeltem Einkommen müssen Frauen dreimal so viel Zeit für den Haushalt und die Kinderbetreuung aufwenden wie ihre Ehemänner. Und selbst berufstätige Südkoreanerinnen, die allein für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen, verbringen noch mehr Zeit mit Haus- und Familienarbeit als ihre Männer, die daheimbleiben. Frauen sind am Arbeitsplatz häufig offener Diskriminierung und Schikane ausgesetzt, wenn sie ein Kind bekommen oder Mutterschaftsurlaub nehmen.
Seit Jahren wird etwa Namyang, einer der führenden Hersteller von Milchprodukten und Babynahrung, beschuldigt, weibliche Angestellte, die heiraten oder ein Kind bekommen, zu degradieren oder unter Druck zu setzen, damit sie kündigen. Diese geschlechtsspezifische Diskriminierung am Arbeitsplatz wird auch dafür verantwortlich gemacht, dass Südkorea seit Jahrzehnten den größten Gender-Pay-Gap unter den OECD-Staaten aufweist, obwohl die Frauen zu den am besten ausgebildeten der Welt gehören.
Einer Umfrage von 2022 zufolge wollen 65 Prozent der jungen Frauen kein Kind bekommen und 55 Prozent nicht heiraten
Foto: Bas Losekoot
Frauen, die ein Kind bekommen, ohne die Ehe einzugehen, sind dermaßen stigmatisiert, dass fast neunzig Prozent der unverheirateten Mütter ihren Arbeitsplatz im Zusammenhang mit der Geburt ihres Babys verlieren oder aufgeben. Auch deshalb machen uneheliche Kinder in Südkorea nur unglaubliche 2,5 Prozent aller Geburten aus – verglichen mit dem OECD-Durchschnitt von 42 Prozent oder 33 Prozent in Deutschland.
Gleichzeitig erhalten mehr als siebzig Prozent der Alleinerziehenden – die überwiegende Mehrheit von ihnen Frauen – keine Unterhaltszahlungen von ihren Ex-Partnern, auch wegen der oft als zahnlos kritisierten entsprechenden Gesetzgebung.
„Die Regierung sagt den Frauen immer wieder, dass sie mehr Kinder bekommen sollen, aber wie können wir das in diesen Verhältnissen?“, fragt Ashley Park, eine junge Mutter. Sie wurde von ihrem Arbeitgeber, einem großen Pharmaunternehmen, unter Druck gesetzt zu kündigen, nachdem sie schwanger geworden war.
Minji Kwak, eine 38-jährige Fernsehautorin und Betreiberin eines beliebten Podcasts für Frauen, die wie sie nicht heiraten wollen, äußert sich ähnlich. Sie sagte mir einmal, dass die übermäßige Doppelbelastung, die in einer Ehe auf sie wartet, „viele Frauen dazu zwingt, auf eine Heirat zu verzichten“.
Fairerweise muss man sagen, dass viele junge südkoreanische Männer ebenfalls zögern, zu heiraten oder ein Kind zu bekommen, und dass sich eine ganze Reihe weiterer möglicher Gründe für die niedrigen Geburtenraten anführen lassen: hohe Mieten, die es jungen Paaren fast unmöglich machen, eine gemeinsame Wohnung zu finden (die meisten Südkoreaner leben bis zur Eheschließung bei ihren Eltern), stagnierende Reallöhne und enorme Kosten für die Ausbildung der Kinder, die vielen eine Familiengründung als unerschwinglichen Luxus erscheinen lassen; und nicht zuletzt die notorisch langen Arbeitszeiten, die einer gesunden Work-Life-Balance entgegenstehen. Hier ist Südkorea einer der Spitzenreiter unter den OECD-Ländern.
„Der Präsident Yoon Suk-Yeol leugnete, dass es überhaupt so etwas wie strukturellen Sexismus gibt“
Insgesamt scheuen aber eindeutig mehr junge Frauen Ehe, Elternschaft oder sogar Verabredungen und romantische Beziehungen als ihre männlichen Altersgenossen. Einer Umfrage von 2022 zufolge wollen 65 Prozent der jungen Frauen kein Kind bekommen und 55 Prozent nicht heiraten, verglichen mit 48 Prozent bzw. 43 Prozent der Männer. Über 62 Prozent der jungen alleinstehenden Frauen sind mit ihrem Beziehungsstatus zufrieden, also weit mehr als die Männer mit einem Anteil von 38 Prozent.
In einer anderen Erhebung sehen nur vier Prozent der Frauen in ihren Zwanzigern und Dreißigern – wie Kim, die erwähnte Angestellte – Ehe und Mutterschaft als wesentliche Bestandteile des Lebens an. Immer wieder zeigt sich auch, dass diejenigen, die sich sexuell diskriminiert fühlen oder allgemein die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Sozialpolitik in Südkorea kritisch sehen, eher bereit sind, auf Heirat und Elternschaft zu verzichten.
Eine Welle der feministischen Bewegung, die Südkorea in den späten 2010er- und frühen 2020er-Jahren erfasste, spielt ebenfalls eine Rolle: „Nicht heiraten“ ist unter jungen Frauen zu einer gängigen Parole geworden. Einige haben sich sogar geschworen, niemals ein Kind zu gebären und zu heiraten, ja sogar, sich nicht mit Männern zu verabreden oder Sex mit ihnen zu haben; das Ganze firmiert unter dem Kürzel „4B“, das für „viermal Nein“ steht, also kein Dating, kein Sex, keine Ehe und keine Kindererziehung. Und das, obwohl viele alleinstehende Frauen ihren Lebensstil nicht unbedingt als politisches Statement sehen.
„Ich habe kein Problem damit, mit meinen männlichen Kollegen oder Bekannten zu interagieren, aber ich möchte einfach keine romantische Beziehung eingehen“, sagt Kim. „Ich habe schlicht das Gefühl, dass
zu heiraten oder ein Kind zu kriegen keine sehr kluge Lebensentscheidung für eine Frau ist. Das potenzielle Risiko ist einfach zu groß.“
Foto: Bas Losekoot
Angesichts der sich abzeichnenden demografischen Katastrophe hat die südkoreanische Regierung in den letzten zehn Jahren umgerechnet Milliarden von Euro ausgegeben, um mehr Menschen zum Kinderkriegen
zu bewegen. Doch mit diesen Unterstützungsmaßnahmen, bei denen es sich meist um Geldgeschenke für Neuvermählte oder frischgebackene Eltern handelt, ist man das Problem der Geschlechterungleichheit kaum angegangen.
Letztere wurde noch verstärkt, nachdem der rechtsgerichtete Präsident Yoon Suk-Yeol 2022 mit einem antifeministischen Programm an die Macht kam. Er leugnete, dass es überhaupt so etwas wie strukturellen Sexismus gibt, und behauptete, der Feminismus erschwere es jungen Leuten, Beziehungen einzugehen, und sei daher für die niedrigen Geburtenraten verantwortlich.
„Ich gehe einfach still meinen Weg und halte mich von Männern fern“
Männer in ihren Zwanzigern und Dreißigern, die dem Feminismus ablehnend gegenüberstehen, gehören zu Yoons eifrigsten Unterstützern – was eine wachsende ideologische Kluft zwischen jungen Männern und Frauen offenbart, die tendenziell progressiver sind.
Die Umfrage eines Unternehmens im Heiratsmarkt von 2023 veranschaulicht dieses wachsende Auseinanderklaffen der Geschlechter in Sachen Weltanschauung und Lebenseinstellung – einschließlich ihrer Ansichten zur Ehe. Auf die Frage, was die Menschen des anderen Geschlechts als Erstes an sich ändern müssten, um sich als Heiratskandidaten attraktiver zu machen, nannten Frauen die Ansichten der Männer über die Aufteilung der Hausarbeit. Männer sagten „Feminismus“.
Vor diesem Hintergrund geben Frauen wie Kim die Idee der Ehe und der Geburt eines Kindes stillschweigend auf. „Ich sage nicht öffentlich, dass ich keine romantische Beziehung mit einem Mann haben möchte – wer weiß, mit welchen Reaktionen ich da in diesem gesellschaftlichen Klima zu rechnen hätte“, erklärt sie. „Ich gehe einfach still meinen Weg, kümmere mich um meine Angelegenheiten und halte mich von Männern fern.“