Der Körper als Kampfschauplatz
„Weibliche Körper spielen in meiner Arbeit seit Langem eine zentrale Rolle – als eine Art Schlachtfeld der religiösen, ideologischen und politischen Rhetorik iranischer Männer“, sagt Shirin Neshat. Die Künstlerin stammt aus dem Iran und lebt, seit sie 17 ist, in den USA. Von dort aus verfolgt sie die Entwicklungen in ihrem Heimatland und thematisiert sie in großformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien und Videoinstallationen.
Das Videointerview führt Shirin Neshat von ihrem New Yorker Atelier aus, in dem sie seit Jahrzehnten auch wohnt. Die Künstlerin beugt sich immer wieder zur Kamera vor und gestikuliert lebhaft mit den Armen; ihre Augen sind dick mit schwarzem Kajal umrandet, eines ihrer Markenzeichen.
In ihrer neuen Installation „The Fury“ (bis zum 9. Juni 2024 bei Fotografiska Berlin zu sehen) finden sich die Besucher eingezwängt zwischen zwei großen Bildschirmen wieder, wodurch sie mitten in eine brutale Situation geraten: Auf der einen Seite sitzt ein Mann in Militäruniform, raucht eine Zigarette und starrt eine junge Iranerin an. Sie ist auf dem zweiten Bildschirm gegenüber zu sehen. Die Videosequenz vermittelt sehr eindringlich das Gefühl des Ausgeliefertseins, die psychischen Folgen sexuellen Missbrauchs.
Im nächsten Moment läuft die Protagonistin halb nackt und orientierungslos durch die Straßen von New York, bis ihr Passanten auf überraschende Weise in ihrer Notlage beistehen: Sie beginnen zu tanzen.
Politik, Brutalität und Widerstand sind für Neshat vertraute Themen. International bekannt wurde sie mit der Fotoserie „Women of Allah“ (1993–1997): Nahaufnahmen verschleierter Iranerinnen, die teils Gewehre in der Hand halten und deren Gesichter mit kalligrafischen Farsi-Schriftzeichen übersät sind. Die Arbeit sorgte im Iran für einen Skandal und wurde dort verboten, machte Neshat jedoch international bekannt.
Entstanden war das Werk nach einem Besuch in ihrem Heimatland im Jahr 1990. Damals lebte sie schon etliche Jahre in den USA und hatte dort gerade ihren Hochschulabschluss gemacht. Als sie durch die Islamische Republik reiste, war sie entsetzt über das Ausmaß der Repression und über die allgegenwärtigen Kontrollen durch die sogenannte Sittenpolizei: „Das Land hatte sich von Grund auf verändert.“
„Wer politisch aufgeladene Kunst macht, wird oft zur Zielscheibe für Drohungen und Aggressionen“
Die Installation „The Fury“ ist, so Neshat, einerseits sehr direkt durch die Ereignisse in dem Land inspiriert, aus dem sie stammt, zugleich aber universell gültig: „Ich will mit dieser Arbeit deutlich machen, dass Männer in Uniformen überall ihre Macht missbrauchen und sexuelle Gewalt ausüben. Im Iran, aber auch in Ägypten, in Israel, der Ukraine, Südamerika oder anderswo.“
Neben dem eindringlichen Doppelvideo sind in der Ausstellung Schwarz-Weiß-Fotos von Frauen zu sehen, betitelt nur mit Vornamen wie „Flavia“, „Marry“ oder „Seema“. Die Namen verweisen auf Iranerinnen, die aus politischen Gründen inhaftiert wurden.
Während der Haft erleiden insbesondere weibliche politische Häftlinge regelmäßig Folter, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen. Viele nehmen sich nach der Freilassung das Leben.
Die Aufnahmen zeigen nackte Körper, den schmerzerfüllten Blick einer Frau oder mit Versen beschriebene Füße und sind entwaffnend persönlich. Das große Format lässt den Betrachtenden keine Möglichkeit, sich dem Schmerz der Frauen zu entziehen.
Zum ersten Mal gezeigt wurde „The Fury“ 2023 in den USA, nachdem im Iran die 22-jährige Mahsa Amini als Folge der brutalen Behandlung durch die „Sittenpolizei“ während ihrer Inhaftierung starb und sich daraufhin die „Women, Life, Freedom“- Proteste formierten.
Als die Bilder um die Welt gingen, wurde Shirin Nashat im Internet teils heftig für ihre Arbeit kritisiert. „Mir wurde Opportunismus vorgeworfen – dabei war das Video lange vor den Protesten entstanden“, sagt sie. „Die Parallelen zwischen meinem Werk und den realen Geschehnissen hatten schon beinahe etwas Unheimliches.“
„Meine Arbeit lässt sich nicht auf eine bestimmte Kultur festlegen“
Dass ihre Kunst für Kontroversen sorgt, ist Shirin Neshat gewohnt. „Wer gesellschaftspolitisch relevante Geschichten erzählt, schmiedet eine scharfe Waffe“, erklärt die Künstlerin. „Und wer politisch aufgeladene Kunst macht, wird oft zur Zielscheibe für Drohungen und Aggressionen.“
Den Anstoß zu „The Fury“ gab ein Gerichtsprozess gegen den berüchtigten iranischen Staatsanwalt Hamid Nouri, der in Schweden festgenommen und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden konnte.
Dieses Verfahren verfolgte Shirin Neshat, wie sie sagt, „obsessiv“ – die Aussagen von Zeugen, von den Opfern und ihren Familien über die Beteiligung Nouris und weiterer ihm gleichgestellter Männer an der Folterung und Ermordung Tausender junger politischer Gefangener im Iran. Viele Überlebende berichteten von wiederholten Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen.
Neben heftigen Vorwürfen erhielt Shirin Neshat jedoch auch viel positive Resonanz und ihre Arbeit trug zu einer intensiven und differenzierten Debatte bei.
„Ich freue mich, dass die Arbeit schließlich doch nach den Maßstäben verstanden und beurteilt wird, die sie selbst vorgibt, und nicht auf einen Kommentar zu ,Woman, Life, Freedom‘ reduziert wird – zumal sie vor dieser Revolution entstand“, sagt sie.
„Nachdem ich schon so lange nicht mehr im Iran lebe, hat meine Arbeit inzwischen selbst etwas Nomadisches und lässt sich nicht auf eine bestimmte Kultur festlegen.“
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld