Literatur | Libyen

Ein Bote aus der Sahara

Seit einem halben Jahrhundert schreibt Ibrahim al-Koni über jenen Ort, an dem er einst als Kind einer Tuareg-Familie geboren wurde. Warum die Wüste ihn nicht loslässt und Worte ihr niemals gerecht werden können

Das Erlebnis, mittels dessen die Wüste mich auswählte und dessen Tragweite ich erst später begriff, war das folgende: Im Alter von fünf Jahren wurde ich, als ich in der Nähe unseres Lagers Lämmer und Zicklein hütete, plötzlich von meiner Umwelt verschlungen.

Von einem Moment auf den anderen fand ich mich in der Unendlichkeit wieder, rund um mich herum nichts als ein kahler Himmel und die abweisende Leere, die sich in alle Himmelsrichtungen erstreckte. Eine unheimliche Stille breitete sich aus, als der Abend über mich hereinbrach.

In dieser Nacht gab es nichts, was mich aufmuntern konnte, außer dem tröstlichen Wink der Sterne, die in der Eiseskälte des Berglands Dschabal Nafusa zu mir herunter leuchteten. Alles um mich herum war gleich und zog sich ohne Ende bis in den dunklen Horizont.

„Alles, woran ich mich aus dieser Nacht erinnere, ist ein langes Gespräch mit der Wüste, die mich verschlungen hatte“

Wie gelähmt beschloss ich, die Nacht auf einem Teppich voller messerscharfer Steine zu verbringen, den Kopf auf die Arme gelegt. Aber aus Angst vor den Wölfen und den Hyänen, mit denen wir uns damals noch das libysche Bergland teilten, machte ich kaum ein Auge zu.

Alles, woran ich mich aus dieser Nacht erinnere, ist ein langes Gespräch mit der Wüste, die mich verschlungen hatte. Ein Gespräch, an dessen Ende mir die letzte Hoffnung genommen war und ich mein Schicksal akzeptierte. Doch gerade in jenem Moment, als ich meine Rettung abschrieb, nahm die Wüste mich auf:

Mit einem Mal fühlte ich mich nicht mehr, als würde ich diesen Ort bewohnen. Er bewohnte mich und drang tief in mein Bewusstsein ein. Er gewährte meiner Seele Zuflucht, als ich unfähig war, ihr selbst zu helfen. Und so erweckte mich die Wüste am nächsten Morgen wieder zum Leben und gab mir einen Stoß in die richtige Richtung:

Wie von Geisterhand geleitet, entdeckte ich die Spur von Kamelhufen, der ich instinktiv folgte und die mich am Abend des folgenden Tages zurück in die Oase führte, aus der ich gekommen war. Es dauerte lange, bis ich die Bedeutung dieser Nacht begriff und den Bund ernst nahm, für den die Wüste mich ausersehen hatte: fortan in ihrem Namen zu sprechen.

Doch als es einmal so weit war, hatte sie einen pflichtbewussten Boten in mir gefunden. Mit welchem Recht hätte ich diesen Auftrag auch verwehren können? So, wie ich mich nicht von der Mutter abwenden kann, die mir das Leben gegeben hat, so kann ich mich nicht von dem Ort abwenden, der mir ein zweites Leben schenkte.

Kein Wunder also, dass ich heute anders auf die Wüste blicke, als man es beispielsweise im Westen tut. Die westliche Sicht der Wüste ist eine wortwörtliche – und wenn ich wortwörtlich sage, dann meine ich damit, sie ist oberflächlich, naiv und sogar ablehnend und kann ganz verschiedene Formen annehmen.

Einmal wird die Wüste dabei zum Nichts deklariert, zu einer Deponie für Chemieabfälle oder zu einem Atomtestgelände, so wie etwa bei den Bombentests, die die Franzosen in den 1950er- und 1960er-Jahren auf algerischem Boden durchführten; einmal deklariert man sie zu einer unzivilisierten Hölle, in der Drogenhändler und Terroristen Zuflucht finden; und dann wird sie bei Bedarf wieder ins genaue Gegenteil verkehrt: in ein exotisches Paradies für Touristen und Urlauber.

Immer geht es in dieser Vorstellung jedoch darum, diesen letzten unberührten Fleck in unserer Welt zu kontrollieren und zu schänden.

„Die westliche Sicht der Wüste ist eine wortwörtliche. Und wenn ich wortwörtlich sage, meine ich damit oberflächlich, naiv und sogar ablehnend“

Eine Tendenz, die uns auch in Libyen nicht unbekannt ist, wurde hier doch bereits in den 1980er-Jahren der Grundstein für das „größte menschengemachte Flussprojekt“ gelegt, ein monumentales Rohr- und Leitungssystem, das bis heute fossiles Grundwasser aus den Tiefen der Wüste zutage fördert und dieses auf Kosten der Landbevölkerung in die großen Küstenstädte pumpt.

Ein Junge, den die Wüste verschlang, um ihm ein Stück Ewigkeit zu zeigen, und der wie durch ein Wunder in diese vergängliche Welt zurückkehrte, kann dieser ausbeuterischen und zerstörerischen Logik nichts abgewinnen.

In meiner Literatur ist die Wüste deshalb niemals eine geografische Realität, kein Platz, der sich auf einer Karte verorten lässt, sondern vielmehr ein Ort, der nicht von dieser Welt ist. Für mich ist sie die Urmutter, die mich die Spiritualität gelehrt hat und in der menschliche und göttliche Werte schlummern.

Nicht umsonst hat es die großen Propheten wie Noah, Ibrahîm (Abraham), Jaakûb ( Jakob), Jûssuf ( Joseph), Mûssa (Moses), Jûnus ( Jona), Îssa ( Jesus) und auch den Propheten Muhammad, den Sohn des Abdullah, stets in die Wüste gezogen.

Denn für all die, die nicht von den materiellen Schätzen dieses Orts besessen sind, ist er eine wahre Schatzkammer voller spiritueller Reichtümer.

Diese Feststellung machte übrigens bereits Herodot, der Vater der Geschichtsschreibung, der im vierten Buch seiner „Historien“, genannt „Melpomene“, die Vorzüge der libyschen Wüstenregionen gegenüber seiner Heimat, dem antiken Griechenland, besang.

In dieser Region habe die griechische Kultur letztendlich die Inspiration für viele ihrer kulturellen Errungenschaften gefunden, so Herodot, angefangen bei ihren Göttern (Athene stamme beispielsweise aus libyschen Erzählungen) über die Musik und andere weltliche Bräuche bis hin zur frühen Technologie, wie etwa dem von vier Pferden gezogene Streitwagen. 

„Die Wüste heißt uns nicht willkommen, damit wir uns in ihr ansiedeln, sondern damit wir sie durchwandern, damit wir sie durchqueren“

Die Wüste strahlte für den Menschen also schon immer eine gewisse Faszination aus, wirkte geheimnisvoll und verführerisch auf uns – und das, obwohl sie sich doch vor allem durch ihre Einfachheit auszeichnet. Übrigens sogar so sehr, dass das Wort „al-basāa“, das für „Einfachheit“ oder „Schlichtheit“ steht, im Arabischen zu einer ihrer Bezeichnungen geworden ist.

Warum ist es gerade dieser Ort, der uns so viel über das Leben lehrt? Für mich liegt der Grund dafür insbesondere darin, dass die Wüste das Leben in einem wichtigen Merkmal nachempfindet: Sie verkörpert eine lange Wanderung – und zeichnet sich gleichzeitig durch die Abwesenheit vorgegebener Wege aus.

Die Wüste heißt uns nicht willkommen, damit wir uns in ihr ansiedeln, sondern damit wir sie durchwandern, damit wir sie durchqueren. Richtig von der Wüste aufgenommen werden kann dementsprechend nur derjenige, der die Religion ihrer Durchquerung annimmt, also durch sie hindurchschreitet, ohne sie hinter sich lassen zu wollen.

Solange wir uns diesem Ruf der Wüste nicht hingeben, uns nicht von ihr bewohnen lassen, bleiben uns ihre Schätze deshalb vorenthalten. So lehrt sie uns eine wichtige Lektion über das Leben. Denn was sonst ist unsere gesamte Existenz anderes als eine große Wanderung von der Wiege zur Bahre?

Es ist kein Zufall, dass „der Weg“ im chinesischen Taoismus ein Synonym für „die Wahrheit“ ist und es in den „Upanischaden“, einer Sammlung philosophischer Schriften des Hinduismus, heißt: „Erst durch Wanderung wurde die Göttlichkeit zur Göttlichkeit.“

Und auch in den großen literarischen Epen der Menschheitsgeschichte wird diese Idee immer wieder verhandelt, angefangen bei „Gilgamesch“ über die ägyptischen Pyramidentexte, die „Ilias“, die „Odyssee“ und die „Aeneis“, „Die Göttliche Komödie“, „Das verlorene Paradies“ und „Don Quijote“ bis hin zu „Krieg und Frieden“, „Moby Dick“ und „Hundert Jahre Einsamkeit“.

Immerzu geht es hier um die rätselhafte menschliche Leidenschaft für die Wanderung, die als das einzige Gegenmittel gegen die unheilbare Krankheit namens Existenz beschrieben wird. Insofern ist die Wüste, trocken, wie sie sein mag, bewohnt von einem elementaren Wissen – und die Lektion, die sie uns heute lehren kann, ist dieselbe, die sie uns seit Tausenden von Jahren lehrt:

Eignet euch das Wissen des Weges an und haltet euch dabei am Saum der Natur fest, die noch nie jemanden im Stich gelassen hat, der sie nach Hilfe ersuchte. Aber fand es nicht schon Voltaire eintönig, alles zu Ende zu besprechen? Warum geben wir uns nicht für eine Sekunde mit der Wahrheit der Vision zufrieden und verzichten auf eine nichtsnutzige Dolmetscherin wie die Zunge?

Anders gesagt: Auch meiner Sprache wird sich die Wüste wohl immer ein Stück weit entziehen. Sie widersetzt sich den Worten, und was ich in 91 Büchern nicht über sie geschrieben habe, wird auch heute nicht mehr in einem Satz aus mir herauskommen.

Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich