Literatur | Finnland

„Wir schreiben die Vergangenheit ständig um“

Pirkko Saisios „Das Rote Buch der Abschiede“ erzählt von Liebe und Verlust im Finnland der siebziger Jahre. Ein kreativer Urknall, der nun auch auf Deutsch erschienen ist. Ein Gespräch mit der Autorin
Schwarz-Weiß Bild von mehreren jungen Menschen, die demonstrieren.

Ein Blick zurück: Die finnische Schriftstellerin Pirkko Saisio (mittig) in Helsinki

Interview von Laura Hypponen

Frau Saisio, in „Das Rote Buch der Abschiede“ erzählen Sie sowohl von der Entdeckung Ihrer sexuellen Identität als lesbische Frau mit Anfang zwanzig als auch von Ihrem Engagement in den linksradikalen Theaterkreisen Helsinkis in den 1970er-Jahren. Der Rhythmus des Romans ist fließend und poetisch, seine Erzählerin kapriziös, verspielt und sentimental. Ist es Ihr persönlichster Text?

In meinem Buch habe ich Fakten und Fiktion frei miteinander kombiniert, um eine möglichst starke dramatische Wirkung zu erzielen; das Buch enthält zum Beispiel erfundene Dialoge aus meiner Kindheit. Im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Beispielen der Autofiktion ist das „Rote Buch der Abschiede“ keine Reise von der Opferrolle bis hin zur Erleuchtung.

„Im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Beispielen der Autofiktion ist das ,Rote Buch der Abschiede‘ keine Reise von der Opferrolle bis hin zur Erleuchtung“

Ich habe ein langes Leben gelebt, bin heute 74 Jahre alt, und meine Erfahrung ist, dass Momente der Erleuchtung vorübergehen. Das Leben bietet vielmehr immer neue Fragen, neue Lösungen, neue Erleuchtungen.

Bei der Lektüre erfährt man ganz unmittelbar einiges über das Gefühlschaos, in das Sie stürzen, als Sie sich zum ersten Mal in eine andere Frau verknallen. Doch Sie erzählen auch von den schmerzhaften Trennungen von den großen Lieben Ihres Lebens. Wie war es, diese Ereignisse um der Kunst willen noch einmal zu durchleben?

Dieser Prozess hatte etwas Befreiendes, auch wenn ich das Buch zweimal schreiben musste, weil ich das Originalmanuskript aus Versehen auf meinem Computer gelöscht hatte. Zu dieser Zeit arbeitete ich als Professorin an der Theaterakademie in Finnland. Das war circa Anfang der Nullerjahre.

Ich habe damals viel Marguerite Duras gelesen, eine Menge Wein getrunken, um meine Selbstzweifel zu überwinden, und schrieb meist nachts. Am nächsten Morgen las ich den Text und hatte völlig vergessen, was ich zuvor geschrieben hatte. Mein Unterbewusstsein produzierte Worte und Gefühle, zu denen mein bewusster Verstand nicht fähig gewesen wäre.

Nachdem ich dies etwa zehn Jahre lang geübt hatte, gelang es mir, auch nüchtern Zugang zu meinem Unterbewusstsein zu finden. Seither brauche ich keinen Wein mehr zum Schreiben.

„Ich habe damals viel Marguerite Duras gelesen und eine Menge Wein getrunken, um meine Selbstzweifel zu überwinden“

Hat sich Ihre Sicht auf die Ereignisse mit der Zeit verändert?

Normalerweise lese ich meine eigene Arbeit nicht noch einmal, nachdem sie veröffentlicht wurde. Aber „Das rote Buch“ ist eine Ausnahme, weil ich es erst kürzlich als Hörbuch aufgenommen habe. Es ist noch anarchischer, als ich es in Erinnerung hatte!

Ich habe mich gefragt, ob ich mich in gewisser Weise meiner Vergangenheit beraubt habe, indem ich über sie geschrieben habe. Das Thema beschäftigt mich vor allem wegen der Veröffentlichung meiner Biografie, die jemand anders geschrieben hat und die unter anderem die Frage aufwirft, wie wahrhaftig ich meine Vergangenheit bisher wirklich dargestellt habe.

Die finnische Boulevardpresse hat in der Folge tagelang mein Sexualleben ausgeschlachtet, Menschen wurden bloßgestellt. Womöglich hätte ich mich nicht auf diesen Prozess einlassen dürfen. Das Gedächtnis ist nicht statisch; seine Funktion besteht darin, uns zu ermöglichen, unsere Sicht auf die Vergangenheit zu revidieren und umzuschreiben.

Das hilft uns, gesund zu bleiben und dem Chaos immer wieder neuen Sinn abzuringen.

Sie entdeckten Ihre Liebe zu Frauen in den frühen 1970er-Jahren, als die Homosexualität nach finnischem Recht noch strafbar bzw. gesellschaftlich stark geächtet war. In Ihrem Buch lese ich aber zwischen den Zeilen, dass dies neben dem Schock, den Sie erlebten, auch etwas Erheiterndes und Aufregendes hatte. Wie erging es Ihnen in dieser Zeit?

In meiner Jugend war Homosexualität komplett unsichtbar und tabuisiert. Ich habe meine eigene sexuelle Identität überhaupt nicht begriffen. Es gab keine Vorbilder, nichts, woran ich mich hätte orientieren können.

Als ich doch den Weg in den schwul-lesbische „Underground“ fand, war der Eindruck unheimlich stark. Über Freunde und Bekannte bekamen wir Zugang zu Bars und Treffpunkten, erfuhren Passwörter, mit deren Hilfe wir eine völlig neue Welt entdecken durften.

Aber Ihre Erfahrungen waren längst nicht nur positiv, oder?

Das Traurigste für meine Generation war, dass es in meinem großen Bekanntenkreis nur eine einzige Mutter gab, die die Homosexualität ihres Kindes akzeptierte. Die bürgerlichen Familien schickten ihre Kinder zum Psychiater, die Arbeiterkinder wurden zu Hause rausgeschmissen.

Die Akzeptanz erfolgte schrittweise. Aber offen gesprochen wurde darüber in den Familien so gut wie nie. Wir waren mit unseren Gefühlen allein.

„Ich habe meine eigene sexuelle Identität überhaupt nicht begriffen“

War die Angst, erwischt zu werden, zu dieser Zeit sehr groß?

Sicher, aber wir hatten keine Angst davor, rechtlich belangt, sondern gesellschaftlich an den Pranger gestellt zu werden. Ich erinnere mich an einen Fall in den 1960er-Jahren, als eine Boulevardzeitung einen reißerischen Artikel über eine Wohnung im Stadtteil Kallio in Helsinki publizierte, in der sich Homosexuelle trafen.

Bilder und Namen wurden veröffentlicht und in der Folge kam es zu mehreren Selbstmorden. Diese Form der sozialen Bestrafung und die damit verbundene Angst hielten bis in die 1980er-Jahre an.

Ich habe allerdings die Erfahrung gemacht, dass Liebesbeziehungen zwischen Männern mehr Wut und Gewalt provozierten. Beziehungen zwischen Frauen wurden viel weniger ernst genommen.

Warum war das so?

Es wurde etwa als völlig natürlich angesehen, wenn zwei Frauen mit kleinem Einkommen zusammenlebten. Niemand fragte sich: Geht da was zwischen den beiden? So oder so gab es viel Heuchelei in der finnischen Gesellschaft.

In „Das rote Buch“ beschreibe ich einen Fall, in dem ich vor eine Gruppe von Lehrerinnen und Lehrern in der Theaterakademie zitiert wurde, an der ich damals studierte. Sie sagten mir, ich solle meine damalige Freundin besser verlassen, wenn ich Karriere machen wollte.

Die radikale Linke sah in der Homosexualität ein Beispiel für den kapitalistischen Verfall. Merkwürdigerweise konnte sich Jahre später keine der Lehrerinnen und keiner der Lehrer mehr an dieses kleine Tribunal erinnern.

Ihr Buch spielt größtenteils in dem von Ihnen bereits erwähnten Viertel Kallio in Helsinki. Wie war es, dort aufzuwachsen?

Die Eltern meines Vaters zogen in dieses Viertel, als sie noch Kinder waren, er wurde dort geboren, und Jahrzehnte später auch meine Tochter Elsa und dann ihre Kinder: Fünf Generationen meiner Familie sind dort groß geworden.

In meiner Kindheit war Kallio ein Arbeiterviertel. Heute ist der Stadtteil gentrifiziert, aber damals waren viele der Wohnungen von kinderreichen Familien bewohnte, beengte Ateliers. Es gab häusliche Gewalt, Alkoholismus und Kleinkriminalität auf den Straßen.

Außer mir ist heute nur noch eine der Personen, die im selben Haus wie ich aufgewachsen sind, am Leben. Das spiegelt die Härte des Viertels wider. Man darf diese Realität nicht romantisieren, auch wenn es in meiner Familie viel zugewandter und weicher als anderswo zuging.

„Die radikale Linke sah in der Homosexualität ein Beispiel für kapitalistischen Verfall“

Wie haben Sie Ihren Weg aus diesem Milieu in jenes der Künstler und Intellektuellen gefunden?

Als ich in die koedukative Schule in Kallio kam, auf die auch Kinder von Akademikern gingen, war das ein großer Sprung, was das soziale Umfeld betraf. In der Schule lernte ich plötzlich Erwachsene kennen, die im Kulturbereich arbeiteten oder sich explizit dafür interessierten, was mich stark beeinflusst hat.

Gleichzeitig war ich innerlich zerrissen zwischen meiner Herkunft aus der Arbeiterklasse und dieser neuen Welt. Ich fühle mich bis heute ein klein wenig schuldig wegen meines Erfolgs.

Als wir später in das bürgerliche Viertel Kruunuhaka in Helsinki zogen, bemerkte meine Tochter, dass ich Freunden immer erklärte, dass wir die Wohnung in der tiefsten Rezession günstig gekauft hatten. Das hatte sicher mit meiner Herkunft zu tun.

In Ihrem Buch schreiben Sie über Ihre Studienzeit an der Universität Helsinki und an der Finnischen Theaterakademie. War es damals möglich, in der finnischen Kulturszene tätig und nicht Teil der Linken zu sein?

Es stimmt, in den frühen 1970er-Jahren hingen so gut wie alle an der Finnischen Theaterakademie Ideologien der radikalen Linken an, und es war damals schwer, ohne eine entsprechende zur Schau getragene politische Überzeugung Erfolg zu haben.

Oftmals blieben die ideologischen Positionen allerdings unscharf, und persönliche Konflikte spielten eine wichtigere Rolle. Im Nachhinein denke ich, dass die Leute damals einfach nur streiten und uneinig sein wollten. Letztlich hatten die politischen Ideale wenig bis nichts mit den Inhalten der Kunst zu tun.

„Man sollte auch einfach mal schweigen dürfen, das bedeutet nicht automatisch, dass man sich auf die Seite des Unterdrückers stellt“

Sehen Sie eigentlich Parallelen zwischen den politischen Bewegungen der 1970er-Jahre und dem Aktivismus der heutigen Jugend?

Ich sehe große Ähnlichkeiten zwischen der heutigen Identitätspolitik und dem linken Aktivismus der 1970er-Jahre, denn auch damals ging es um die Rechte von Minderheiten.

Zu meiner Zeit war die kapitalistische Gesellschaftsordnung an allem schuld, heute ist es das weiße Patriarchat. Es fehlt ein nuanciertes Denken, und ich glaube nicht, dass es der Sache der Minderheiten dient, wenn die Leute wegen allem beleidigt sind und es nicht erlaubt ist, Fehler zu machen.

Man sollte auch einfach mal schweigen dürfen, das bedeutet nicht automatisch, dass man sich auf die Seite des Unterdrückers stellt.