„Ich liebe Science-Fiction“
Das Interview führten Atifa Qazi und Ruben Donsbach
Herr Riadi, in Ihrer Arbeit als Modedesigner und Filmemacher beschäftigen Sie sich mit der Kultur der Amazigh, also einer der nichtarabischen Gruppen in Nordafrika. Kann man hier von „Indigenen“ sprechen?
Auf jeden Fall. Die Kultur Nordafrikas begann Jahrtausende vor der arabischen Invasion im 7. Jahrhundert. Es gibt Höhlenmalereien vom Ende der letzten Eiszeit 10.000 v. Chr. im südlichen Ostalgerien, in Jebel Irhoud in Marokko wurden 300.000 Jahre alte menschliche Überreste gefunden, die ältesten bisher bekannten des Homo sapiens weltweit.
Die Amazigh, wie man die Berber im Arabischen nennt, haben auf diesem Territorium immer wieder mit fremden Kulturen interagiert und sich dabei als äußerst widerständig erwiesen. Eine Zeit lang konnte man ein Kind im heutigen Marokko nicht mit einem indigenen Namen registrieren lassen. 2014 wurde dieses Verbot aufgehoben.
Ihr Vater ist Marokkaner, Sie sind in London aufgewachsen. Wie sind Sie mit der Amazigh-Kultur in Berührung gekommen und wie hat sie Ihre Identität und Ihr ästhetisches Empfinden geprägt?
Als Kind wusste ich natürlich, dass ich marokkanische Wurzeln habe und verbrachte fast jedes Jahr den Sommer in Marokko. Aber die eigentliche Bedeutung meines Erbes war mir lange nicht bewusst, auch weil die arabischen und islamischen Einflüsse viel offensichtlicher waren.
Als junger Mensch in der Diaspora will man einfach nur in sein Umfeld hineinpassen und nicht anecken, das ist ganz natürlich. Das änderte sich erst um meinen 22. Geburtstag herum, zur Zeit des Lockdowns. Ich hatte damals eine Art Epiphanie.
Was ist passiert?
Ich hatte in meiner Jugend und Kindheit oft das Gefühl, fehl am Platz zu sein. Also begann ich, intensiv zu recherchieren und begriff ganz allmählich, wer meine Familie und meine Community waren. Ich verstand den Reichtum und die Komplexität der Amazigh-Kultur. Ich wusste plötzlich, wohin meine Reise gehen würde.
Auf Ihrer Instagram-Seite zeigen Sie zwei Ihrer Tattoos: den marokkanischen Stern und ein Amazigh-Symbol. Wie passt beides zusammen?
Das ist für mich kein Gegensatz. Der marokkanische Stern symbolisiert die Nation, das Amazigh-Symbol steht für einen freien Menschen oder ein freies Volk. Wir sollten unsere indigene Kultur nicht nur musealisieren, sondern als gegenwärtig und lebendig erfahren.
Wann begannen Sie, die Amazigh-Kultur wirklich zu leben?
Das geschah schrittweise. So richtig vertieft habe ich meine Beziehung zu der Kultur erst, als ich mich im Rahmen konkreter Projekte damit beschäftigte, etwa mit meinem Modelabel Iter Mora und dem indigenen Sci-Fi-Film, der dieses Jahr auf verschiedenen Festivals laufen wird.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, nach Hause zu kommen. Ich hatte ein klares Ziel vor Augen, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben. Es war der Beginn von etwas das größer war als ich, eine sehr schöne und intensive Erfahrung.
Die Amazigh bewahren ihr kulturelles Erbe vor allem über mündlich tradierte Poesie, über Tänze und die Musik, nicht in Form von Texten, die sich leicht archivieren lassen. Wie beeinflussen diese Praktiken Ihre eigene Herangehensweise, wenn Sie Mode oder Filme machen?
In „Die Stadt des Orion“ geht es beispielsweise um die Guedra, einen Tanz aus Südmarokko, Algerien und Mauretanien, den man im Sitzen ausführt und der rituelle und therapeutische Funktionen haben kann. Es geht darum, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Sonne, Mond und Sterne gleichermaßen zu segnen und mit ihnen in Kontakt zu treten.
Lange vor der Ausbreitung des Islam prägte die Verehrung der Sterne am nächtlichen Himmel spirituelle Rituale und Praktiken, aber auch das Alltagsleben in Nordafrika, die Poesie und die Musik bis hin zu den Webmustern von Teppichen, Tätowierungen und Schutzamuletten mit astronomischen Motiven. Diese Objekte waren nicht einfach nur schön. Die Tuareg etwa nutzen manche Bilder auch als Wegweiser auf ihren Wanderungen durch die Wüste.
Mein Film zeigt wiederum eine spirituelle Reise zu einer Art uraltem Sternentor, dessen Eingang durch ein Guedra-Ritual gleichsam beschützt wird, eine Himmelfahrt, über die meine Protagonisten mit ihren Vorfahren in Verbindung treten. Die Iter-Mora-Kampagne wie auch der Film wurde in einer Art Sternwarte in der Wüste produziert, der namensgebenden „Stadt des Orion“.
Auf der Website von Iter Mora schreiben Sie, dass im Spannungsfeld von Tradition und imaginärer Zukunft eine neue indigene Gegenwart vorstellbar werden soll. Das klingt erst einmal abstrakt, taucht als Motiv aber in vielen Gesprächen auf, die wir zum Thema Indigenität für diese Ausgabe geführt haben. Was meinen Sie damit?
Das indigene Erbe ist wie ein Fundament, das uns ausdauernd und widerstandsfähig macht. Es lässt uns die Mühen des Alltags so geübt und elegant meistern, wie die Tuareg die Wüste durchqueren. Aber da hört es nicht auf. Ich fragte mich weiter, wie man dieses Erbe in einem futuristischen Sinne darstellen könnte, also in einer Art utopischer, spekulativer Fantasiewelt – einem gedanklichen Versuchslabor.
„Niemand braucht mehr sinnlose Marken, die nur produziert werden, um trendy zu sein“
Konkret sah das so aus: Ich nahm mir traditionelle Sahara-Kleidung vor, Gewänder und Schleier, die Menschen vor Sand und Sonne schützen. Aber ich verwendete dafür keine Baumwolle, sondern hochwertige synthetische Stoffe, die nicht per Hand, sondern per Laser zugeschnitten wurden. Statt fließender Silhouetten konzipierte ich breite Schulter- und Kniepolster.
In der Schmucklinie greifen wir das Thema Navigation und Sterne auf. Unser Model Salima trägt Tuareg-Ohrringe und ein Make-up, das eine Referenz an indigene Tattoos ist, dazu ein Sci-Fi-Headset.
Warum scheint Ihnen das Science-Fiction-Genre so geeignet dafür, eine neue indigene Gegenwart zu denken?
Ich liebe die großen Science-Fiction-Filme, die in fantastischen Welten spielen und stark von Nordafrika oder dem Nahen Osten beeinflusst sind: ob nun mit Blick auf den Schauplatz, die Mode oder die Architektur. In „Dune“ wird mit dem blauen Volk der Wüste natürlich auf die Tuareg angespielt. In „Star Wars“ gibt es Gebäude und Kuppeln, die Kopien tunesischer Amazigh-Häuser sind.
Die Liste ließe sich endlos fortsetzen, und natürlich werden diese Bezüge fast nie erwähnt. Das Spannende aber ist, dass eine alte Kultur und Tradition unserer Zeit plötzlich voraus zu sein scheint. Dieses Narrativ macht dieses Genre so besonders.
„Wir sollten unsere indigene Kultur nicht nur musealisieren, sondern als gegenwärtig und lebendig erfahren“
In Filmen wie „Dune“, aber auch in Kollektionen von Modedesignern wie Yves Saint Laurent waren die Bezüge auf Nordafrika und den Nahen Osten allerdings oft von kolonialen Stereotypen geprägt. Wie kann dies in Zukunft vermieden werden?
Ein wichtiger Punkt. Eine Kultur zu verstehen, ist etwas ganz anderes, als sie nur wegen ihrer visuellen Reize zu bewundern. Wenn ich die erwähnten Referenzen verwende, geht es immer darum, der Kultur Respekt zu zollen und sie nicht zu instrumentalisieren. Ich möchte keine Kostüme ohne Bedeutung schneidern oder irgendjemanden mit einer Kampagne in der Wüste ästhetisch überwältigen.
Wir müssen unsere Kultur bewahren und Menschen lehren, sie zu verstehen, anstatt ihre Ursprünge weiter zu verschleiern. Dafür muss man mit Menschen zusammenarbeiten, die aus dieser Kultur kommen und entsprechende Geschichten erzählen können. So wie unser Model Salima Mahraoui, die aus einem Dorf nahe jenem stammt, in dem meine Großmutter geboren wurde. Oder die Sängerin Malika Zarra, die in meinem Film auftritt.
Der Wunsch, wieder stärker mit der Welt um uns herum verbunden zu sein, ist an sich sehr zeitgemäß, nicht nur in einem indigenen Kontext, meinen Sie nicht auch?
Auf jeden Fall. In Städten wie London oder New York ist man ständig in Eile und völlig entfremdet von der Natur. In Nordafrika hat man fast immer freie Sicht, die Sonne oder die Sterne sind nie verdeckt. Man kann sie sehen und spüren und kennt die Tageszeit und den eigenen Standort, die Geschwindigkeit des Lebens ist eine andere.
Ich glaube, dass diese Verbindung zur Erde, zum Kosmos und zu den Sternen Menschen noch immer tief berührt und etwas in ihnen auslöst. Es beruhigt und verortet uns im Leben. Das ist etwas, was besonders vielen jungen Menschen im Westen zu fehlen scheint.
Was hat das alles mit Mode zu tun?
In der Mode geht es doch immer um Repräsentation und Identität. Wir brauchen heute keine sinnlosen Marken mehr, die nur produziert werden, um trendy zu sein und uns von den entscheidenden Dingen im Leben abzulenken. Statt nach Oberfläche sehnen wir uns nach Bedeutung, statt Vereinzelung und Individualismus streben wir an, wieder Teil einer Gemeinschaft zu sein.
Für mich und viele andere ist die Brücke, über die man dorthin gelangt, die Beschäftigung mit unserem indigenen Erbe. Und das Ganze führt uns nicht nur in die Vergangenheit, sondern ebenso in die Zukunft und schließlich zurück ins Hier und Jetzt.