Jeder Film eine neue Welt
In jungen Jahren hatte ich das Gefühl, dass ich in einem abgelegenen Teil der Welt wohne und sich das Leben anderswo abspielt. Daher wollte ich schon früh die Welt erkunden. Ich wurde in Fortaleza geboren, im Nordosten von Brasilien fernab der Metropolen. Ich wuchs bei meiner Mutter und meiner Großmutter auf; mein algerischer Vater lebte nicht bei uns. Dass ich als einziger Sohn in einem Haus ohne Männer aufwuchs, hat mich sehr geprägt. Bei uns gab es keine Hierarchie. Diese Atmosphäre spielt auch in meinem Film „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ (2019) eine wichtige Rolle.
Als ich zum Studium nach Brasília zog, entdeckte ich die Welt des Kinos. In einem Filmclub liefen oft Retrospektiven – vor allem mit Arthouse-Filmen aus Europa und Afrika, die mich stark beeinflusst haben. Dass ich selbst eines Tages als Regisseur arbeiten würde, wäre mir damals jedoch nicht in den Sinn gekommen, die Produktion schien mir viel zu kostspielig. Im zweiten Studienjahr ging ich nach Paris, wohin mein Vater ausgewandert war.
„Es kam mir so vor, als hätte mir jemand eine neue Identität verpasst“
In Paris hatte ich das Gefühl, endlich in der großen Welt angekommen zu sein. Zugleich war es eine sonderbare Zeit. Damals kamen viele Jugendliche aus migrantischen Familien ins Erwachsenenalter; es gab massive Spannungen. Wenn ich in der Stadt unterwegs war, wurde ich immer wieder kontrolliert. In Museen oder öffentlichen Gebäuden fühlte ich mich beobachtet, oft hielt man mich wegen meines Namens für einen Araber.
Da ich noch nie in Algerien gewesen war, kam es mir so vor, als hätte mir jemand eine neue Identität verpasst. Obwohl ich genug Geld hatte, um mir eine Wohnung zu mieten, sagten mir die Vermieter am Telefon, Karim sei doch kein brasilianischer Name, und legten einfach auf, als hätte ich sie angelogen. Paris war enorm pulsierend, für mich wie ein Traum, aber innerhalb dieser Traumwelt wurde ich andauernd infrage gestellt.
Nach anderthalb Jahren kehrte ich nach Brasilien zurück, aber dort hielt es mich nicht lange. Dabei spielte es sicher eine Rolle, dass ich homosexuell bin. Brasilien ist ein Land mit zwei Gesichtern: Auf den ersten Blick wirkt die Heimat des Karnevals liberal, inklusiv und aufgeschlossen, aber in Wahrheit grassieren Homophobie und Hasskriminalität gegen Frauen.
Der Teil Brasiliens, in dem ich lebte, war sehr konservativ geprägt. Deswegen ging ich nach New York, um Architektur und Fotografie zu studieren. Dort konnte niemand lokalisieren, woher ich kam – ob aus dem arabischen Raum, der Türkei oder sonst woher. Nicht auf eine bestimmte Nationalität festgenagelt zu werden, war für mich sehr befreiend und das Gegenteil von dem, was ich in Frankreich – einem Land mit langer Kolonialgeschichte – erlebt hatte.
Ich tauchte in das queere Nachtleben ein. Während meiner Zeit in New York in den frühen 1990ern starben viele Leute an Aids. In der schwulen Community kochte wegen der vielen Diskriminierungen die Wut hoch, aber zugleich gab es viel Solidarität untereinander. Ich hatte das Gefühl, Teil von etwas zu sein, und genoss die Freiheit. Ich fotografierte und machte erste experimentelle Filme. 2002 drehte ich meinen ersten Spielfilm, „Madame Satã“, das Porträt einer schillernden Dragqueen.
„Ich kam mir hier vor wie ein Alien“
Später ging ich mit einem DAAD-Stipendium für ein halbes Jahr nach Berlin. Diese Zeit zählt zu den glücklichsten Phasen meines Lebens. Die Stadt entfesselte meine Fantasie. Danach konnte ich zwar in Brasilien einen Film und eine Fernsehserie drehen, aber der Gedanke an Berlin ließ mich nicht los, sodass mein Freund und ich schon bald wieder hinflogen. Allerdings wurde mir bei meinem zweiten Aufenthalt schnell klar, dass die Stadt in Bezug auf Filmproduktionen etwas provinziell war im Vergleich zu Paris, Madrid oder London. Ich kam mir hier vor wie ein Alien. Damals gab es nur wenige nicht-deutsche Filmemacher.
Rückblickend hatte es aber auch Vorteile, relativ isoliert zu arbeiten. Ich hatte meinen eigenen Space. Berlin ist eine große, aber auch eine ruhige Stadt – ein guter Ort zum Nachdenken. Für die Arbeit an dem Film „Futuro Beach“ (2014) drehte ich einige Szenen auf dem Tempelhofer Feld in Berlin. Die Offenheit und Weite dieses Ortes gefallen mir.
Diesen besonderen Park hat sich die Zivilgesellschaft erkämpft, und das, obwohl das Gelände der Traum eines jeden Immobilieninvestors ist. Als dort 2015 syrische Geflüchtete in einem ehemaligen Hangar untergebracht wurden, nahmen meine filmischen Aktivitäten eine unerwartete Wendung. Mit Schrecken musste ich beobachten, wie junge arabische Männer dämonisiert wurden.
Ich fühlte mich an meine Erfahrungen in Paris erinnert und drehte den Film „Zentralflughafen THF“ (2018) über die Geflüchteten und ihr Leben in den Notunterkünften. Mir ging es darum, die Einzelnen als Menschen zu zeigen, ihre Geschichten zu erzählen. Seit der Arbeit an diesem Film fühle ich mich in Berlin wirklich zu Hause.
Protokolliert von Jess Smee, aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld