„Menschen, die uns nicht auffallen würden“
Interview von Atifa Qazi
Marvin Bonheur, als Fotograf begannen Sie mit der Serie „Trilogie du Bonheur“, in der Sie den Vorort von Paris, aus dem Sie kommen, porträtieren. Was bedeutet Ihnen die Banlieue?
Ich bin in Seine-Saint-Denis geboren und aufgewachsen, bekannt auch als das Département 93 im Großraum Paris. Mein Blick auf die Banlieue ist sehr durch die 93 geprägt, einen Ort, der für die Medien und viele Französinnen und Franzosen beispielhaft für das „Ghetto” steht.
Ich bin in Bondy, Aubervilliers und Aulnay-sous-Bois groß geworden, alles Städte, die zu diesem Département gehören.
Die 93 hat mich in dem geformt, was ich heute bin – in meiner Kunst, meiner Kultur, meiner Sprache und meinen Entscheidungen. Ich habe mehr als 22 Jahre meines Lebens dort verbracht. Mein erster Job, meine erste Wohnung waren da. Die Banlieue ist alles für mich.
Wie sind Sie zur Fotografie gekommen?
Die Fotografie wurde eher nebenbei zu einem Teil meines Lebens. Ich bin 1991 geboren, und die meisten aus meiner Generation hatten, als sie sechzehn waren, Digitalkameras, die ja nicht teuer waren.
Damals war ich noch Tänzer und kaufte mir so ein Gerät, um ein paar Bilder von unserer Gruppe zu machen. Viele meiner Freundinnen und Freunde hatten Kameras. Es war die Zeit von Skyblog, und MSN war das soziale Medium dieser Zeit.
Erst 2014 begann ich, Motive in meinem Viertel abzulichten, um die Atmosphäre dort einzufangen. Das war der Moment, in dem ich beschloss, das Ganze professioneller anzugehen.
Ist Fotografie für Sie eine Form des Widerstands?
Meine beste Freundin in der Schule begeisterte sich sehr für Fotografie, ich selbst dagegen habe nie davon geträumt, Fotograf zu werden. Ich habe mich neben dem Tanz eigentlich mehr fürs Zeichnen interessiert. Letztlich hat mir die Kunst das Leben gerettet, und sie hilft mir bis heute dabei, meine Gefühle auszudrücken.
Meine Arbeit speist sich aus einer gewissen Frustration. Ob auf dem Weg zur Schule, auf dem nach Hause, oder wenn ich einfach am Wochenende Zeit mit Freunden verbrachte – ich habe immer viel davon gesprochen, wie die Welt uns sieht, die wir in den Banlieues leben; wie dieses Land auf uns schaut, wie wir an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.
Die ganzen Ungerechtigkeiten haben in mir ständig sehr viel Wut ausgelöst. Damals war die Diskrimierung sogar noch offensichtlicher als heute: Wir hatten kaum Chancen, der Zugang zu Jobs, zu Kunst oder überhaupt zu irgendeinem interessanten Kulturangebot blieb uns verwehrt.
„Im Moment kann ich der Gesellschaft noch nicht so richtig verzeihen, dass ich mich während meiner ganzen Kindheit ausgeschlossen gefühlt habe“
Wenn man aus dem „Ghetto“ stammt, neigt man dazu, seinen Frust durch Gewalt, im Sport oder über die Kunst rauszulassen. Gut in der Schule zu sein, ist extrem schwierig, beim Standard der Ausbildung können wir hier nicht wirklich mit Paris mithalten. Für mich war die Kunst die einzige Möglichkeit. Der Frust, mit dem ich damals zu kämpfen hatte, bleibt bis heute der Motor meiner Arbeit. Die Banlieues zu fotografieren, war für mich eigentlich mehr Rebellion als kreative Leidenschaft.
Wann wurden Sie mit ihrer Arbeit bekannter?
Es fing mit Instagram an: Da wo ich herkomme, ist es kaum möglich, sich mit der Kunstszene zu vernetzen. Als ich meine Fotos erstmals online stellte, reagierten nicht viele darauf. Aber um 2016, 2017 herum stieg das Interesse des Pariser Kunstbetriebs an der sogenannten „hood culture“.
Agenturen, große Mode-Player und Art-Direktoren begannen, die Ästhetik der Banlieue für sich zu entdecken. So wurden die Magazine I-D und Vice auf meine Arbeit aufmerksam. Damals kannte ich solche Publikationen gar nicht. Ich hatte nichts mit dieser Welt zu tun. Ich war ein Schwarzer Mann aus dem „Ghetto“. Aber von da an nahm alles seinen Lauf.
In Ihren Fotografien geht es immer wieder um die „vergessenen Gesichter“, wie Sie es nennen. Fühlen Sie sich verpflichtet, die Banlieues zu repräsentieren?
Vielleicht wird sich das mal ändern, aber im Moment kann ich der Gesellschaft noch nicht so richtig verzeihen, dass ich mich während meiner ganzen Kindheit ausgeschlossen gefühlt habe. Bis heute habe ich so etwas wie Rachegefühle. Ob ich in Detroit, Schanghai oder London bin, immer konzentriere ich mich in meiner Arbeit auf vernachlässigte Communitys, auf Orte, die weder Touristen anziehen noch die Aufmerksamkeit des Mainstreams erregen. Wenn Leute mir sagen, dass ich diesen oder jenen Ort meiden soll, weil er hässlich oder gefährlich ist oder die Menschen dort dumm sind, will ich genau dort hin.
Zu fotografieren gibt mir das Gefühl, dass ich in der Gesellschaft das Bild davon verändern kann, was als „hässlich“ gilt. Denn ich komme ja selbst aus einem Teil der Gesellschaft, auf den man lange Zeit herabgesehen hat. Leute sagen mir oft: „Du porträtierst Menschen, die uns nicht auffallen würden, wenn wir ihnen auf der Straße begegnen, aber auf deinen Bildern sehen sie attraktiv aus.“ Ich möchte ihre Vorstellung von Schönheit infrage stellen.
„Wenn Leute mir sagen, dass ich einen Ort meiden soll, weil er hässlich oder gefährlich ist oder die Menschen dort dumm sind, will ich genau dort hin“
Die Themen und Motive mögen sich unterscheiden, aber die Energie, die mich 2014 dazu gebracht hat, meine Serie über die Banlieue zu machen, ist dieselbe, die mich heute nach Detroit oder Schanghai treibt. Es geht darum, meine Geschichte als Schwarzer Mann aus einem marginalisierten Viertel zu erzählen.
Sie haben solche Stadtteile in London, Lissabon, Detroit, Schanghai und in Martinique fotografiert. Was genau reizt Sie an diesen Orten?
Die Leute und ihre Menschlichkeit – wie sie Fremde aufnehmen, sie willkommen heißen. Als Menschen, die in solchen urbanen Umgebungen aufgewachsen sind, haben wir uns immer danach gesehnt dazuzugehören, Teil der Gesellschaft zu sein. Daher sind wir Fremden gegenüber tendenziell offener.
Als ich in Detroit war, öffneten die Menschen mir ihre Türen, luden mich zum Essen, Trinken und Rauchen ein und feierten mit mir, genau wie meine Freunde in London oder Martinique, wo meine Familie herkommt. In diesen Vierteln gibt es einen starken Gemeinschaftssinn. Wenn man arm ist, versteht man, dass alle leiden, wenn man sich nicht gegenseitig hilft – es geht ums Überleben.
Für mich ist es einfach, eine Verbindung zu den Menschen in diesen Gegenden herzustellen, denn ihre Probleme und Kämpfe spiegeln meine eigenen wider.
Die Banlieue-Kultur hat mittlerweile Eingang in den Mainstream gefunden, wird international gefeiert und manchmal sogar vereinnahmt, in der Modewelt zum Beispiel. Was halten Sie von dieser Entwicklung?
Das ist zurzeit eine wichtige und viel diskutierte Frage in Frankreich. Als ich in Paris in einer wohlhabenden Gegend in einer sehr kleinen und günstigen Wohnung gelebt habe, ging ich auf den Wochenmarkt und sah dort oft diese superreichen Studenten und Studentinnen, hauptsächlich Weiße aus eher konservativen Familien – sie entsprachen dem Stereotyp des traditionellen Franzosen.
Ich hörte, wie sie anfingen, den Slang aus unserem Viertel zu benutzen oder die Art von Schuhen zu tragen. Sie haben sich die Codes zu eigen gemacht, für die uns die Generation ihrer Eltern noch ablehnte. Das hat mich wütend gemacht, weil es meine Sprache war und meine Art, mich zu kleiden. Sie können TNs oder Trainingsanzüge von Nike tragen und sich gegenseitig mit „wesh“ begrüßen, aber sie werden nie verstehen, wie schwer es ist, aus der Banlieue zu sein. Nie werden sie Polizeikontrollen über sich ergehen lassen müssen wie wir. Und das bereitet mir Unbehagen.
„Auch wenn wohlhabende Franzosen anfangen unseren Slang zu benutzen und Trainingsanzüge zu tragen, haben sie keinerlei echte Verbindung zu den Menschen aus den Banlieues“
Zugleich bin ich stolz darauf, dass wir nach all den Jahren, in denen ich mir mehr Akzeptanz gewünscht habe, so viele Menschen inspirieren. Sie wehren sich nicht mehr gegen den Einfluss, den das „Ghetto” auf die allgemeine Kultur hat. Das können sie gar nicht, denn sie lieben es: Sie hören Rap, tragen Sportklamotten, gucken Fußball.
Trotzdem haben sie keinerlei echte Verbindung zu den Menschen aus den Banlieues, und sie stellen definitiv niemanden von dort ein. Im Endeffekt hat sich an dem System nichts geändert. Wenn sie dem nächsten Trend hinterherjagen, wird sich immer noch nichts an den Lebensumständen meiner Leute verändert haben. In Frankreich leben wir in einer Illusion.
Sie haben Kampagnen für große Marken wie Adidas gemacht. Wo ziehen Sie die Grenze zwischen der Repräsentation der Banlieue und der Ausbeutung durch solche Unternehmen?
Am Anfang war ich sehr offen, wenn Marken auf mich zukamen, um mit mir zusammenzuarbeiten. Mittlerweile sage ich ihnen, wenn ihr meine Kunst wollt, dann müsst ihr mir aber auch soweit vertrauen, dass ich umfassende kreative Mitsprache bekomme. Ich stelle sicher, dass ich nicht nur der Fotograf, sondern auch der Creative Director bin.
Für meine jüngste Adidas-Kampagne habe ich das Casting gemacht und die Location für das Shooting ausgewählt: 93. Es war mir wichtig, Menschen diverser Herkunft und unterschiedlichsten Aussehens abzubilden. Ich bin stolz, sagen zu können, dass man demnächst im Zentrum von Paris ein großes Plakat der Weltmarke mit einem Schwarzen Mann sehen wird, der offenkundig aus 93 stammt.
Gibt es etwas, das Sie an der aktuellen Fotografieszene speziell nervt?
Ja, all diese Codes, die Vielzahl an unausgesprochenen Regeln, die man zu befolgen hat. Du musst aus diesem Zirkel und von jener Schule kommen – sonst wirst du nicht als „echter“ Fotograf ernstgenommen. Das nervt mich, besonders in Paris. Wir bilden uns ein, die Hauptstadt der Kunst und Mode zu sein, aber schon allein mit den erwähnten Codes erweisen wir uns immer wieder als ziemlich beschränkt. Hätte ich mich an sie gehalten, hätte ich nie angefangen, in 93 zu fotografieren.
Wenn ich Workshops gebe, ermutige ich die jungen Menschen dazu, sich selbst zu vertrauen und zu tun, wonach ihnen ist. Kunst ist Freiheit. Fotografie ist Freiheit. Wenn du im „Ghetto” Blumen fotografieren möchtest, nur zu!