Familie | China

„Millionen von Kindern leben von ihren Eltern getrennt“

Chinesische Wanderarbeiter:innen erhalten oft keinen offiziellen Wohnsitz. Viele Eltern lassen ihre Kinder in den Dörfern zurück. Die Fotografin Tami Xiang hat einige besucht
Auf der linken Seite dieses Fotomosaiks stehen eine alte Frau und ein alter Mann, vor ihnen ein kleiner Junge - alle in warmer Winterkleidung. In der Mitte sind Fahrkarten abgebildet. Auf der rechten Seite steht ein chinesisches Paar in mittlerem Alter, die Frau trägt eine weiße Jacke und einen pinkfarbenen Schal

Xiang Peng, sieben Jahre alt, ist Erstklässler. Seine Eltern arbeiten in Guangzhou, 24 Stunden und 16 Minuten mit dem Zug entfernt von ihrer Heimatstadt Wanzhou. In den letzten sechs Jahren haben sie sich sechsmal gesehen, jeweils für fünf bis sieben Tage während des chinesischen Neujahrsfestes

Für ihre Serie „Familienporträt“ besuchte die Fotografin Tami Xiang in den Jahren 2014 bis 2018 das Dorf MaTou in der chinesischen Metropolenregion Chongqing. Ihre Montagen verbinden jeweils ein Porträt der auswärts arbeitenden Eltern (rechts) und eines der Kinder, welche meist von den Großeltern aufgezogen werden (links). In der Mitte befindet sich das Zugticket und die Fahrtdauer vom Arbeitsplatz der Eltern bis ins Heimatdorf. Die durchbrochene Struktur der Bilder erinnert an die lokale Tradition des Webens von Bambusmatten.

Interview von Ruben Donsbach

 

Tami Xiang, Sie wurden im Jahr 1982 in China als viertes Kind Ihrer Familie geboren. Damals galt dort noch die Ein-Kind-Politik. Was bedeutete das für Ihre Eltern?

Ich war das vierte Kind und „ungeplant“, wie man damals sagte. Wenn das erste Kind ein Mädchen war, durfte man sieben Jahre später einen weiteren „Versuch“ für einen Jungen unternehmen. Aber meine Eltern hatten bereits einen Sohn, meinen Bruder, der 15 Jahre älter ist als ich. Das kam also nicht infrage.

Die Geschichte ist tatsächlich sehr dramatisch, denn meine Mutter musste sich während der Schwangerschaft mit mir an verschiedenen Orten verstecken und wurde von Mitgliedern eines lokalen „Komitees für Kinderplanung“ über mehrere Provinzen hinweg verfolgt. Währenddessen war es Winter. Teilweise musste sich meine Mutter bei eisigen Temperaturen und Schnee in einem Wald verstecken, um den Behörden zu entkommen.

Was wäre passiert, wenn man Ihre Mutter erwischt hätte?

Sie hätten versucht, mich zu töten, und meine Mutter zu einer Abtreibung zu zwingen.

Das ist unfassbar.

Ich glaube, diese Ereignisse haben sich unbewusst in mir festgesetzt, und sie begleiten mich noch heute. Viele Frauen in unserer Nachbarschaft mussten in diesen Jahren Zwangsabtreibungen vornehmen lassen. Es wird geschätzt, dass im Rahmen der Ein-Kind-Politik Hunderte Millionen Kinder verloren gingen. Meine Tante, die Schwester meiner Mutter, musste sogar ein Kind sehr spät in ihrer Schwangerschaft abtreiben lassen. Von den „ungeplanten“ Kindern in meinem Dorf bin ich die einzige Überlebende.

 

„Ich war ein illegales Kind. Deshalb kamen Beamte und nahmen uns alles weg, was meine Eltern besaßen, unser Land, alle Tiere und viele Wertsachen“ 

Woher haben Ihre Eltern die Kraft genommen, so sehr für Sie zu kämpfen?

Ich habe mit meiner Mutter im Laufe der Jahre ziemlich oft über das Thema geredet, aber diese Frage habe ich ihr bisher noch nicht gestellt, was zugegebenermaßen merkwürdig ist. Meine einfache Erklärung ist, dass meine Mutter einen sehr starken Charakter hat. Wenn sie etwas will, dann versucht sie es mit aller Macht durchzusetzen.

Was geschah, nachdem Sie geboren wurden?

Ich galt als illegal und meine Eltern konnten mich nicht im Rahmen des Hukou, des chinesischen Systems der Wohnsitzkontrolle, registrieren lassen. Deshalb kamen schon bald Beamte vorbei und nahmen uns alles weg, was meine Eltern besaßen, alle Tiere, alle Schweine und alle Kühe und viele Wertsachen. Außerdem musste meine Familie eine Strafe von 400 Renminbi zahlen. Das war mehr, als mein Vater damals in einem Jahr verdiente. Sie nahmen uns auch unser Land weg. Das war sehr schwer für meine Eltern.

Wie gingen Ihre Eltern mit der Situation um?

Mein Vater verließ uns, um als Wanderarbeiter zu arbeiten, und kehrte nur zurück, wenn bei uns in der Region die Ernte eingebracht werden musste. Er war ein Arbeiter und eine Art Zauberer, ein Medium, könnte man sagen. Das ist jetzt eine andere Geschichte, aber lassen Sie mich nur sagen, dass meine Mutter glaubt, dass es ihm damals mithilfe einer Zeremonie gelang, die bösen Geister zu verscheuchen, und ich auch deshalb überlebt habe. Ich wollte immer einen Text über diese Geschichte schreiben, aber etwas hat mich davon abgehalten. Es ist schwer, das logisch zu erklären.

 

 

Auf der linken Seite des Fotomosaiks stehen eine alte Frau und ein alter Mann, in der Mitte hinter ihnen ist ein junger Mann mit Brille und heller Jacke zu sehen. Im Mittelstreifen sind Fahrkarten abgebildet. Auf der rechten Hälfte des Fotomosaiks steht ein chinesisches Paar in mittlerem Alter.Paar

Wan Jun, 22 Jahre alt, hat gerade seinen Universitätsabschluss gemacht. Seine Eltern arbeiten in Wuchang, elf Stunden und sieben Minuten von ihrer Heimatstadt Wanzhou entfernt. In den letzten 14 Jahren waren sie nur fünfmal zu Besuch, für jeweils fünf bis zehn Tage – um etwa offizielle Dokumente zu beantragen

 

Ihr Vater war während Ihrer Kindheit also überwiegend abwesend?

Oh ja, ganz sicher. Er musste es sein.

Wie haben Sie sich damals gefühlt?

Ich hatte das Glück, dass meine Mutter und andere Familienmitglieder noch da waren und mich trösteten. Wenn mein Vater nach Hause kam, wusste er nicht einmal, in welchem Schuljahr ich war. Eine meiner stärksten Erinnerungen ist, dass er immer Bananen für mich besorgte, die damals wirklich schwer zu bekommen waren. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, stürmte ich die Treppe hinauf und suchte in unserem Geheimversteck. Und da waren sie.

Das Phänomen der Kinder, die zurückbleiben, hat Sie aber nicht losgelassen?

Nein. Denn später verstand ich, dass in China Millionen von Kindern von ihren berufstätigen Eltern zurückgelassen wurden und werden. Schätzungen gehen davon aus, dass es in ganz China über sechzig Millionen sind. Die meisten von ihnen leben bei ihren Großeltern. Darunter auch das Kind meines Bruders und meiner Schwägerin. Sie sind nur alle paar Jahre zurückgekommen, um es zu besuchen, vielleicht drei oder vier Mal in den letzten 15 Jahren. Stellen Sie sich das vor.

„Das Hukou-System ist der Kern der sozialen Ungerechtigkeit, die wir heute in China erleben“

Für mich ist das sehr schwer zu begreifen. Mein Sohn wird bald ein Jahr alt, genau genommen in einer Woche. Einige der Kinder, die Sie fotografiert haben, waren in seinem Alter, als ihre Eltern weggingen, um in den urbanen Zentren fernab ihrer Heimatdörfer Arbeit zu finden.

Man geht davon aus, dass zu den bereits genannten sechzig Millionen verlassenen Kindern weitere dreißig Millionen sogenannte „floating children“ hinzukommen. Das sind Kinder, die mit ihren Eltern in die Stadt gezogen sind, dort aber nicht die gleichen Rechte wie ihre Altersgenossen haben.

Hat das Hukou-System, das Sie erwähnt haben, etwas damit zu tun?

Das ist der Kern der sozialen Ungerechtigkeit, die wir heute in China erleben. Es gibt ein ländliches und ein städtisches Hukou, und diese beiden Systeme haben jeweils einen sehr konträren Einfluss auf das Leben der Menschen. Es handelt sich um ein Zweiklassensystem, das unsere Gesellschaft durchzieht und bestimmt, wer Zugang zu guter Bildung, Gesundheitsversorgung und sozialen Diensten hat, und wer nicht.

Der städtische Hukou bietet all diese Vorteile. Aber wenn man aus einem Dorf kommt, müsste man sich erst ein Haus in einer Stadt kaufen, um diesen Status zu erlangen, und das ist für viele viel zu teuer. Hat man diesen Status aber erst einmal inne, dann wird auch die Rente später viel höher ausfallen, selbst wenn man wieder aufs Land zieht.

Wie hat sich dieses System auf Sie selbst ausgewirkt?

Mein ganzes Leben lang haben mir Leute aus der Stadt das Gefühl gegeben, minderwertig zu sein. Sie sahen mich an, sie sahen, was ich trug, wie ich sprach, wie ich mich verhielt, und sie wussten, ich bin keine von ihnen. Das ist eine häufige Erfahrung in meiner Generation.

Damals war ich nicht wirklich selbstbewusst. Ich kannte die Bücher nicht, auf die man sich in der Schule bezog, weil meine Eltern kein Geld für eine Bibliothek hatten. Ich musste mich also anpassen. Und viele der verlassenen Kinder müssen es auch.

Wie denken Sie in dieser Hinsicht über Ihre Eltern?

Ich bin ihnen schlicht sehr dankbar. Sie gaben mir die Freiheit, mich zu entwickeln. Sie unterstützten mich dabei, meine Träume zu verwirklichen, obwohl ihr eigenes Leben hart war. Sie schickten mich sogar auf die Universität, was außergewöhnlich war.

Tatsächlich war mein Bruder der erste Junge in unserem Dorf, der studierte, und ich war das erste Mädchen. Freunde von mir durften nicht einmal die Oberschule in einer nahe gelegenen Stadt besuchen. Ihre Eltern schickten sie direkt zur Arbeit in die Fabriken oder auf die Felder.

War Ihr Fotoprojekt über die zurückgelassenen Kinder ein Mittel, um Ihre eigenen Erfahrungen zu verarbeiten?

In gewisser Weise schon. Nachdem ich einige der Porträts aufgenommen hatte, zeigte ich sie meinen ehemaligen Nachbarn in meinem Dorf. Eines Tages sah sich eine Großmutter die Bilder an und sagte: „Wenn doch nur die ganzen Familien auf einem Bild zusammen sein könnten!“

Das war sehr emotional für mich und die Inspiration dafür, eine Montage aus den Porträts und dem Zugticket für die Strecke zwischen dem Heimatdorf und dem Arbeitsplatz zu machen. Die meisten Eltern kommen allerdings höchstens einmal im Jahr während des chinesischen Neujahrsfestes zurück, und das auch nur für wenige Tage.

 

 

In diesem Fotomosaik stehen auf der linken Bildseite eine alte Frau und ein alter Mann, vor ihnen ein kleines Kind mit einer bunten Hose und dicken Jacke. Auf dem Mittelstreifen sind Fahrkarten abgebildet. Rechts steht ein chinesisches Paar im mittleren Ater, beide in dunkler Oberbekleidung.

Zhou Fangya, sechs Jahre alt, geht in den Kindergarten. Ihre Eltern arbeiten in Shenzhen, 27 Stunden und eine Minute mit dem Zug von ihrer Heimatstadt Wanzhou entfernt. In den letzten fünf Jahren hat sie ihre Eltern nur viermal gesehen, jeweils für fünf bis sieben Tage während des chinesischen Neujahrsfestes

Die Eltern schicken Geld, um ihre Kinder und Großeltern zu unterstützen. Aber welche Auswirkungen hat die Trennung psychisch auf die Kinder?

Ich glaube, das schlimmste Gefühl ist die Einsamkeit. Während eines anderen Projekts habe ich Kinder aufgefordert, ihre Gefühle zu zeichnen. Viele malten ihre Familien, aber getrennt, wie auf meinen Fotos. Als ich sie fragte, wovon sie träumten und was sie sich für ihre Familien wünschten, antworteten die meisten von ihnen: Sie wünschten sich einfach, dass ihre Eltern zurückkommen würden.

Ich musste viele dieser Interviews abbrechen, weil die Kinder zu aufgeregt waren und zu weinen begannen, und das wollte ich nicht. Im Allgemeinen haben diese Kinder eine schlechtere Bildung erhalten und leben ungesünder als ihre Altersgenossen in den Städten. Denn ihre Großeltern mögen zwar liebevoll sein, aber viele von ihnen sind selbst nicht zur Schule gegangen. Sie sind Bauern und haben ihr ganzes Leben lang nur gearbeitet.

Glauben Sie, dass viele dieser Kinder später Probleme haben werden, in die Stadt zu ziehen, und damit die Einschränkungen und vielleicht sogar Traumata ihrer Großeltern wiederholen, von denen viele unter Ereignissen wie der Kulturrevolution gelitten haben?

Beides trifft definitiv zu. Die meisten Großeltern sind sehr alt, vielleicht siebzig oder achtzig Jahre alt. Die Kinder, die sie betreuen, haben deshalb eine verzerrte Vorstellung von der modernen Welt. Die Liebe der Eltern ist etwas, das nicht ersetzt werden kann. Es ist weniger eine materielle als vielmehr eine emotionale Sache.

Das ist vielleicht eine zu persönliche Frage, aber sind Sie Mutter oder möchten eigene Kinder haben?

Ich würde es grundsätzlich immer vorziehen, Kinder in Australien zu bekommen, wo ich heute lebe und studiere. Aber ich muss zugeben, dass meine Geschichte eine gewisse Belastung darstellt und ich immer noch unter den Umständen leide, unter denen ich geboren wurde.

Ich würde mit meinen Kindern darüber sprechen wollen, möchte sie aber gleichzeitig nicht überfordern. Sehen Sie, als ich jung war, musste ich zu Fuß zur Grundschule gehen, neunzig Minuten hin und neunzig Minuten zurück.

„Heute arbeite ich an meiner Doktorarbeit an einer ausländischen Universität. Ich bin die Erste aus meinem Dorf, die das erreicht hat“

Als Kind?

Ja. Später, in der Mittelschule, musste ich dasselbe tun, vielleicht sogar bis zu vier Stunden am Tag laufen. Schlimmer aber war, dass man mir das Gefühl gegeben hat, ich käme von ganz unten. Nicht einmal von ganz unten. Ich war „ungeplant“, ich war ein Nichts. Ich hatte nicht einmal einen Hukou. Das ist als Kind sehr schwierig zu verarbeiten. Wie sollte ich das meinen Kindern erklären?

Gibt es eine bestimmte Erinnerung an Ihre Eltern, die Ihnen auch heute noch besonders präsent ist?

Ja, ich glaube schon. Als ich mich um einen Studienplatz bemühte, war das wirklich eine einmalige Sache. In China bekommt man nur selten eine zweite Chance. Ich stand unter großem Druck. Aber meine Mutter kam zu mir und sagte, ich solle mir keine Sorgen machen. „Wenn es nicht klappt, dann gibt es andere Möglichkeiten“ und „Lass dich nicht deprimieren“, sagte sie. Das hat mir sehr geholfen.

Heute arbeite ich an meiner Doktorarbeit an einer ausländischen Universität. Ich bin die erste Person aus meinem Dorf, die das erreicht hat. Ich bin eine Überlebende und werde meinen Eltern für ihre Liebe und Unterstützung für immer dankbar sein.

Das Fotomosaik zeigt links eine alte Frau und einen alten Mann, vor ihnen stehen ein Junge und ein kleineres Mädchen. Der Mittelstreifen zeigt Fahrkarten. Rechts stehen ein Mann und eine Frau. Alle tragen winterliche Kleidung.

Xie Lingling, sieben Jahre alt, geht in die erste Klasse und Xie Xiangfei, zehn Jahre alt, in die dritte Klasse. Ihre Eltern arbeiten in Guangzhou, 24 Stunden und 16 Minuten mit dem Zug von ihrer Heimatstadt Wanzhou entfernt. In den letzten sieben Jahren haben sie ihre Eltern nur sechs Mal gesehen, jeweils für fünf bis zehn Tage während des chinesischen Neujahrsfestes