Indigene Justiz | USA

„Zu Gerichtsverfahren kommt es bei uns nur selten“

Die Anwältin Abby Abinanti baute in Kalifornien einen indigenen Gerichtshof mit auf. Dort geht es weniger um Strafe als um Hilfe und Kooperation - mit besten Ergebnissen
Eine etwas ältere Frau sitzt mit gefalteten Händen an einem Schreibtisch, hinter hier sind unscharf zwei Fahnen zu erkennen. Sie trägt lange weiße Haare, silberne Ohrringe und einen grauen Pullover mit Überweste. Sie schaut direkt in die Kamera.

Die Anwältin und Richterin Abby Abinanti war die erste indigene Juristin Kaliforniens. Sie spezialisierte sich auf Familienrecht und arbeitete lange an staatlichen Gerichten in San Francisco. Sie ist Angehörige der Yurok, einer indigenen Community in Nordkalifornien

Frau Abinanti, Sie gehören den Yurok an, einer indigenen Gemeinschaft in Nordkalifornien. Wie sieht Ihre Arbeit als Richterin und Anwältin aus, wenn Sie mit Angehörigen Ihrer Community arbeiten? Welche Wertvorstellungen sind hier besonders wichtig?

In der praktischen Umsetzung hat sich bei den Yurok im Laufe der Jahre allerhand gewandelt, aber unsere Grundwerte sollen bestehen bleiben. Das unterscheidet uns von den nicht-indigenen Kulturen in den Vereinigten Staaten: Unser Vorgehen in der Praxis ist von einem anderen Wertesystem geprägt. Mit der Zeit hat unsere Gemeinschaft auch einige sehr ungute Angewohnheiten entwickelt: Alkoholmissbrauch, Drogen, Gewalt. Hier müssen wir korrigierend eingreifen – unabhängig von den Ursachen und von der langen Geschichte der staatlichen Bevormundung.

Wenn etwas aus dem Ruder läuft, gehen wir in engen Kontakt zu den Menschen unserer indigenen Community. Wenn zum Beispiel Eltern sich nicht richtig um ihre Kinder kümmern, werden diese Eltern von uns engmaschig betreut. Wir setzen uns alle zwei Wochen mit ihnen zusammen und helfen ihnen, damit sie sich auf ihre elterlichen Aufgaben konzentrieren können. Das etablierte Justizsystem ist weiter weg von den Menschen – dort finden Gespräche mit problembelasteten Familien nur alle sechs Monate statt.
 

„Sich bessern müssen die Straffälligen selber, aber wir tun viel, um zu helfen“

Wie gestaltet sich Ihre konkrete Arbeit mit Gesetzesbrechern?

Erstens leisten wir praktische Hilfestellung und unterstützen sie zum Beispiel bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche. Wir vermitteln ihnen Erziehungskurse für Eltern oder helfen ihnen, lesen zu lernen, wenn sie das möchten. Der Stamm der Yurok lebt im ländlichen Nordwesten Kaliforniens, der verkehrstechnisch schlecht erschlossen ist. Das wird zum Beispiel dann zum Problem, wenn jemand endlich einen Job gefunden hat und dann aber zu einem obligatorischen Drogentest antreten muss, der während der Arbeitszeit und zudem noch an einem Ort stattfindet, der weit entfernt ist. Fährt der Betreffende zu dem Test, ist er unter Umständen seinen Arbeitsplatz los, und die Familie steht ohne Einkommen da.

In solchen Fällen suchen wir unkomplizierte Lösungen und sorgen zum Beispiel dafür, dass jemand zu dem Betreffenden nach Hause kommt und den Drogentest dort nach Feierabend durchführt. Wir schalten uns kontinuierlich ein und helfen überall dort, wo es Probleme zu lösen gibt. Sich bessern müssen die Straffälligen selber, aber wir tun viel, um ihnen das zu erleichtern.

Sie greifen also intensiv in das Leben der Menschen ein?

Unseren Anwältinnen und Anwälten wird in der Ausbildung vermittelt, dass sie sich um Hilfsbedürftige so kümmern sollen, als wären sie ihre Tanten oder Onkel. Mit diesem Modell können die Yurok viel anfangen, denn es hat kulturgeschichtlich eine lange Tradition. Wir machen das schon seit Tausenden von Jahren so.

Steht diese Arbeitsweise im Konflikt mit den Wertvorstellungen und Traditionen, die bei Ihrer Arbeit als Richterin für den Bundesstaat Kalifornien zum Tragen kamen?

Ja. Nehmen wir zum Beispiel den Grundsatz der „stranger justice“. Er besagt, dass Richter nicht mit Fällen befasst werden dürfen, bei dem sie die beteiligten Personen kennen. Diese Einschränkung gibt es in unserer Gemeinschaft nicht. Als ich mein Amt antrat, hieß es, ich dürfe nicht als Richterin tätig werden, wenn ich die betreffende Person oder Familie schon kannte. Dem hielt ich entgegen, dass wir Yurok uns untereinander alle kennen.

„Wenn etwas aus dem Ruder läuft, gehen wir in engen Kontakt zu den Menschen unserer Community“

Wir sind alle an demselben Fluss aufgewachsen und leben seit Jahrtausenden zusammen. Bei uns gibt es oft Streitigkeiten, aber wir finden gar keinen Außenstehenden, der sie schlichten könnte, denn es gibt schlicht und einfach keine Außenstehenden. Da sind meine Kolleginnen und Kollegen verstummt. Fortan durfte ich mit Menschen aus meiner Community arbeiten.

Wie hat die Yurok-Gemeinschaft reagiert, als sie eine Richterin aus den eigenen Reihen bekamen?

Die Menschen kommen zur Verlesung der Anklageschrift ins Gericht. Das ist im Strafrecht die formelle Eröffnung des Tatvorwurfs, bei der der Beklagte anwesend ist. Ich frage den Beklagten, ob er auf einem Gerichtsverfahren besteht oder lieber mit mir ein Gespräch führen will. Die meisten entscheiden sich für das Gespräch mit mir, weil das aufgrund unserer Traditionen für sie der leichtere Weg ist. Sie erläutern mir die Sachlage, und wir erarbeiten gemeinsam eine Lösung. Zu Gerichtsverfahren kommt es bei uns inzwischen nur noch sehr selten.

Als ich noch Anwältin beim Gericht des Bundesstaats Kalifornien war, hat ein Anwaltskollege einmal den Richter gefragt: „Wie kommt es eigentlich, dass Sie Frau Abinantis Mandanten immer ohne Kaution auf freien Fuß setzen?“ Der Richter erwiderte: „Wenn sie nicht freiwillig herkommen, schleppt sie sie her.“ Genau so ist es: Wenn ein Yurok flüchtig ist, weiß ich, wo ich ihn finde: entweder bei seiner Tante oder bei seiner Großmutter. Dort sammle ich die Ausbrecher ein. Vor mir haben sie mehr Angst als vor der Polizei.

Glauben Sie, dass eine Kriminalitätsursache das Schwinden des Gemeinschaftssinns ist?

Zu innerfamiliären Problemen kommt es, wenn es an Hilfe von außen fehlt. Wenn die Menschen keine Unterstützung bekommen, haben sie das Gefühl, dass sie versagen. Niemand will ein System, das erst dann in Aktion tritt, wenn man in Not ist.

„Der Grundgedanke ist so zu agieren wie eine erweiterte Familie“

Wir müssen als Gemeinschaft die Augen offenhalten, denn ständig tauchen neue Gefahren auf. Nachdem ich zum ersten Mal von Fentanyl hörte (einem synthetischen Opioid, das bis zu 50-mal so stark wirkt wie Heroin und 100-mal so stark wie Morphin), schulte ich unser Personal entsprechend. Damit ist das Problem zwar nicht aus der Welt, aber immerhin können wir reagieren und unseren Leuten helfen.

Interessiert das bundesstaatliche Justizwesen sich für die Arbeitsweise des Yurok Tribal Court?

Ja – aus dem ganzen Land kommen Leute, die wissen wollen, wie das Gericht unser Yurok-Gemeinschaft arbeitet. Bei uns waren schon Vertreter anderer Stammesgerichte, aus dem Ausland und von Gerichten aus anderen Ländern zu Besuch. Wir helfen dem Staat im Rahmen von Pilotprojekten, verschiedene Programme auf die Beine zu stellen - zum Beispiel einen „Family Wellness Court“, der Familien und Kinder unterstützt. Demnächst läuft ein „Parent Partner Program“ an, das Menschen helfen soll, sich im System zurechtzufinden und sich von schlechten Gewohnheiten zu lösen.

Der Grundgedanke ist, ein freundschaftliches Verhältnis aufzubauen und im Grunde so zu agieren wie eine erweiterte Familie. Dieses Format findet bereits Nachahmer, weil es gut funktioniert. Inzwischen haben wir für den Austausch zwischen dem indigenen Gerichtswesen und der staatlichen Justiz ein „Tribal State Court Forum“ eingerichtet. In Kalifornien arbeiten wir bei der Rechtsprechung mittlerweile als Partner zusammen.

Ich muss immer wieder an den Ausspruch dieses kalifornischen Richters denken: Wenn Richterin Abby sich eines Falles annimmt, braucht man sich um diesen Fall nicht mehr zu kümmern.


Interview: Jess Smee. Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld