Tödliche Routen in der Sahara
In manchen Monaten klettert die Temperatur in der nigrischen Wüste Ténéré auf über fünfzig Grad. In diesem Teil der Sahara wächst kein Baum, kein Strauch, nichts, was Schatten spenden könnte. Die Wüste verzeiht keine Fehler. Ich bin dort aufgewachsen, in Tin Telloust, einem Dorf nahe der Grenze zu Algerien und Libyen.
Ich erinnere mich noch gut an ein Sprichwort aus meiner Kindheit: Wer in die Wüste geht, dem muss das Gewicht des Wassers egal sein. Denn ohne Wasser wirst du dort nicht überleben. Es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, was die Wüste mir als Kind bedeutete. Bei aller Gefahr wussten wir, wie wir mit diesem Ort umzugehen hatten, und konnten die einzigartige Schönheit dieser Landschaft wertschätzen.
Doch was einst mein Zuhause war, hat sich im Laufe der Jahre auf drastische Art und Weise verändert. Die riesigen Sandflächen, die mir einst so vertraut waren, haben sich in eine gespenstische Landschaft verwandelt, ein herzzerreißendes Mahnmal für die zahllosen Menschen, die dort ihr Leben verloren haben.
„Bei aller Gefahr wussten wir, wie wir mit diesem Ort umzugehen hatten, und konnten die einzigartige Schönheit dieser Landschaft wertschätzen“
Heute sehe ich die Ténéré als Friedhof. Dass sich meine Wahrnehmung verändert hat, hängt mit meiner Arbeit zusammen. Mein Fachbereich ist die Politische Geografie. Derzeit promoviere ich an den Universitäten Grenoble Alpes in Frankreich und Abdou Moumouni in Niamey in Niger zur EU-Migrationspolitik und der Frage, wie diese sich auf Niger auswirkt.
Niger ist in den vergangenen Jahren zu dem Land geworden, in dem die meisten Migrantinnen und Migranten verschollen sind. Seit 2014 hat das sogenannte Missing Migrants Project 1.329 Personen registriert, die bei dem Versuch, die Sahara zu durchqueren, ums Leben gekommen sind. 1.092 dieser Fälle ereigneten sich entlang der Trans-Sahara-Routen in Niger.
Realistisch gesehen ist die tatsächliche Zahl allerdings um ein Vielfaches höher, da in der Wüste bei Weitem nicht alle Leichen gefunden werden. Für die NGO Border Forensics habe ich im Jahr 2023 deshalb an einer investigativen Recherche mitgearbeitet.
„Die riesigen Sandflächen haben sich in ein herzzerreißendes Mahnmal verwandelt für die zahllosen Menschen, die dort ihr Leben verloren haben“
Historisch gesehen war Niger schon immer ein Transitland. Die großen Trans-Sahara-Handelsrouten führten durch die Stadt Agadez und das, was wir zirkuläre Migration nennen, war weit verbreitet: Traditionell zogen viele Menschen auf der Suche nach Arbeit von Westafrika oder Subsahara-Afrika durch Niger nach Libyen oder Algerien und kehrten später wieder zurück.
Vor 2015 gab es in Niger keinerlei Gesetz, das Migrationsbewegungen dieser Art verbot. Unabhängig von ihrer Nationalität konnten sich Migrierende so relativ frei und sicher bewegen. Doch im Jahr 2013 führten die anhaltenden Konflikte in Mali und Nigeria dazu, dass viele Menschen flohen.
Niger war zu diesem Zeitpunkt politisch relativ stabil und wurde somit zum Ziel ihrer Flucht. Im Jahr 2013 kam es dann zu einer Tragödie, als eine große Gruppe von Migrierenden in der Wüste an der nigrisch-algerischen Grenze ums Leben kam – zum größten Teil Frauen und Kinder. Dieser Vorfall sorgte in Niger für Entsetzen und Empörung – und für ein neues Narrativ der Regierung: Fortan wurden die „Schleuser“ als Schuldige ausgemacht.
Gleichzeitig fehlte der Regierung das Geld, um echte politische Maßnahmen zu ergreifen. Ab 2015 sah sich dann allerdings auch die Europäische Union mit der sogenannten Flüchtlingskrise konfrontiert – die ich als geopolitische Krise bezeichnen würde – und hatte plötzlich ein großes Interesse daran, afrikanische Staaten bei der Einhegung und Kontrolle der Migration zu unterstützen.
„Schnell sanken die offiziellen Zahlen von Migranten. Tatsächlich ging die Migration jedoch weiter – nur jetzt fernab der sicheren Routen“
Am 26. Mai 2015 verabschiedete das nigrische Parlament daraufhin das Gesetz Nr. 2015-36, das eine Kehrtwende im Umgang mit Migration darstellen sollte. Es wurde mit finanzieller Unterstützung der EU-Mitgliedstaaten ausgearbeitet und ist sehr repressiv: Wer Migrationsdienstleistungen in den Bereichen Transport, Vermittlung oder Unterbringung anbietet, wird seitdem kriminalisiert.
Zusammen mit Border Forensics wollte ich dokumentieren, welche tödlichen Folgen das verschärfte Gesetz hat. Deshalb untersuchten wir wichtige Orte entlang der meistgenutzten Route vom nigrischen Agadez ins libysche Sebha: Dirkou, Séguédine, Madama und Toummo. Für unsere empirische Studie nutzten wir Fernerkundungsmethoden und Satellitendaten.
Dabei zeigte sich, dass die militärischen und sicherheitspolitischen Aktivitäten in der Region deutlich zugenommen haben. Bevor das Gesetz Nr. 2015-36 in Kraft trat, konnten Migrierende – wie alle anderen Menschen auch – als Teil eines Militärkonvois auf den Hauptrouten von Agadez nach Norden reisen. Auf dieser Straße hat man Zugang zu Brunnen und ist wegen der Soldaten relativ sicher vor Überfällen durch Banditen.
Als Folge des neuen Gesetzes wurde jedoch jede Transportdienstleistung für Migrierende zur Straftat. Jedem, der dagegen verstieß, drohten drakonische Strafen bis hin zur Inhaftierung. An neuen Kontrollpunkten, Zollstellen und militärische Posten wurde fortan überprüft, wer auf diesen Routen reiste. Schnell sanken die offiziellen Zahlen von Migranten – und die europäischen Partner feierten das Gesetz als Erfolg.
„Die Migrationspolitik zielt darauf, die Wüste zu einer Waffe zu machen, die tötet, ohne dass jemand aktiv auf den Abzug drücken muss“
Tatsächlich setzte sich die Migration jedoch fort. Sie fand jetzt nur fernab der sicheren Routen statt. Auch das konnten wir mit unserer satellitenbasierten Analyse beweisen: Mit Blick auf unsere Bilder lässt sich nachvollziehen, dass Migrierende in Niger immer häufiger die gefährlichen Wüstenrouten nutzen. Wenn es dort zu einer Autopanne kommt oder das Wasser ausgeht, besteht kaum eine Chance auf Hilfe.
Immer mehr Menschen kommen deshalb ums Leben oder verschwinden spurlos. Im Rahmen meiner wissenschaftlichen Arbeit ist mir im Laufe der Zeit immer klarer geworden, wie strategisch die nigrische Regierung und ihre europäischen Partner die Sahara zur Abschreckung nutzen. Ihre Migrationspolitik zielt darauf, die Wüste zu einer Waffe zu machen, die tötet, ohne dass jemand aktiv auf den Abzug drücken muss.
Lässt sich dieses Rad wieder zurückdrehen? Ein erster Schritt dazu wurde im November 2023 getan, als die nigrische Regierung das umstrittene Gesetz aufhob. Seitdem können sich Migrierende wieder etwas freier bewegen. Das kann allerdings nur der Anfang sein: Die internationale Migrationspolitik müsste grundsätzlich neu konzipiert werden.
Denn die Freiheit, sich selbstbestimmt über Grenzen hinweg zu bewegen, ist weltweit sehr ungleich verteilt. Erst wenn sich an dieser Ungerechtigkeit etwas ändert, werde ich mich auch in meiner Heimat wieder wirklich zu Hause fühlen können. Ich sehne mich nach einer Zeit, in der ich die Ténéré nicht mehr mit einem Friedhof assoziieren muss.
Eines Tages werde ich sie hoffentlich wieder als das sehen, was sie in meiner Kindheit war: ein Knotenpunkt von vielfältigen, sicheren und menschenwürdigen Migrationspfaden.
Protokolliert von Gundula Haage. Der vollständige Bericht „Mission Accomplished? The Deadly Effects Of Border Control In Niger“ (2023) von Border Forensics ist online verfügbar.