Soundarchiv

Europas migrantische Wurzeln

Das Webprojekt „Black Med“ ist ein weit verzweigtes Klangarchiv des Mittelmeerraumes. Es zeigt, wie stark die europäische Kultur seit Jahrtausenden durch Einflüsse aus Afrika und Asien geprägt ist
Der Screenshot zeigt einen schwarzen Bildschirm mit grauem Wellenmuster. Oben auf der Seite steht in weißen Buchstaben eine Kurzbiografie über den Künstler Abul-Hasan Alí Ibn Nafi aus dem 8. Jhd. Dazu gibt es ein Bild aus einem historischen Atlas, das das Territorium von Andalusien im Süden Spaniens zeigt.

Screenshot des Online-Archivs „Black Med“ des Künstlerduos Invernomuto

Interview von Ruben Donsbach

Herr Bertuzzi, Herr Trabucchi, warum haben Sie die Website blackmed.invernomuto.info gestartet?

Wir haben „Black Med“ anlässlich der Biennale Manifesta 12 in Palermo im Jahr 2018 initiiert. Das Ziel war, ein lebendiges Archiv für Musik und Klang aus dem Mittelmeerraum zu schaffen. „Black Med“ basiert auf einem Algorithmus, der das Material immer wieder neu kombiniert und so einen quasi endlosen Stream generiert.

Man kann ihn wie ein Webradio abrufen oder sich über verknüpfte Texte und visuelle Medien immer weiter in das Material und seine historischen und kulturellen Kontexte einarbeiten. Außerdem ist das System offen, jeder kann über einen Upload-Bereich neue Sounds hochladen: ein wachsendes Archiv, das sich ständig weiterentwickelt.

Um welche Inhalte geht es konkret?

Ein Song, der unser Projekt gut repräsentiert, ist „Caravan II Baghdad“ von Hamid Baroudi aus dem Jahr 1994. Baroudi ist ein in Tiaret, Algerien geborener Musiker und Sänger. Der Videoclip zum Song wurde in der Wüste in Almeria in Andalusien im Südosten Spaniens gedreht. Bekanntlich beherrschten die sogenannten Mauren fast acht Jahrhunderte lang weite Teile Andalusiens und hinterließen ein herausragendes kulturelles Erbe. Das Video dazu kondensiert auf eigentümliche Weise die Erinnerung an diese Zeit.

„Das Ziel war, ein lebendiges Archiv für Musik und Klang aus dem Mittelmeerraum zu schaffen“

An welches Publikum war diese Musik adressiert, und was hat das mit „Black Med“ zu tun?

Kurioserweise war „Caravan II Baghdad“ in den frühen 1990er-Jahren einer der größten musikalischen Hits an der ostitalienischen Adriaküste, etwa in berüchtigten Clubs wie der Discoteca Melody Mecca in Rimini. Damals sagten die Leute, dass sie „Afro“ tanzen gehen wollten.

Darunter verstand man eine eklektische Mischung aus afrikanischem Funk von Fela Kuti, brasilianischem Bossa Nova, Sitar-Musik aus Indien und Disco. DJ Pery, jahrzehntelang Haus-DJ im Melody Mecca, erklärte uns, dass der Genre-Begriff „Afro“ sich nicht allein auf afrikanische Musik bezog, sondern vielmehr für einen „globalen“ Sound stehen sollte.

Für „Caravan II Baghdad“ trifft das ja tatsächlich zu: Der Song wurde an der Südküste des Mittelmeers produziert, der Musikclip dazu auf der Iberischen Halbinsel gedreht, und ein Hit wurde er an der Adria, wo Touristen aus aller Welt ihren Sommerurlaub verbringen. Diese merkwürdigen Verbindungen und Bezüge beschreiben unser Projekt „Black Med“ ziemlich gut.

Fast überall in Europa wählen Menschen zunehmend migrationsfeindliche und nationalistische Parteien. In Deutschland ist wieder von der „Leitkultur“ die Rede. Wie wirkt sich dieses politische Klima auf Ihre Arbeit aus?

In den vergangenen Jahren sind mehrere Listening-Sessions von Black Med entstanden, so etwas wie Kapitel. Das letzte wurde 2022 im Kulturzentrum Officine Grandi Riparazioni in Turin vorgestellt: gewissermaßen eine Klangreise, auf der man verschiedene Grenzgebiete durchquert und die das Narrativ eines europäischen Territoriums mit fixen Grenzen ad absurdum führt. Unsere europäischen Wurzeln, das kann man hier hören, sind transnational und migrantisch.

„Damals sagten die Leute, dass sie ‚Afro‘ tanzen gehen wollten. Darunter verstand man eine eklektische Mischung“

Der Name Black Med erinnert an das 1993 vom englischen Kulturwissenschaftler Paul Gilroy publizierte Buch „The Black Atlantic“, in dem er die „schwarze“ Diasporakultur im Kontext des Transatlantischen Sklavenhandels thematisiert. Sind Sie davon inspiriert?

Der Titel „Black Med“ leitet sich vom Begriff „Mediterraneo Nero“ (Schwarzes Mittelmeer) der Postkolonialistin Alessandra Di Maio ab, die in Palermo lehrt. Aber natürlich ist sie wiederum von Gilroy beeinflusst, der übrigens auch eine Musikauswahl für unser Archiv zur Verfügung gestellt hat. Er schreibt dazu: „Ich wollte, dass die Menschen hören, wie die Musikkulturen des Mittelmeerraums einander immer wieder neu bereichert und beeinflusst haben. In der europäischen Kultur gibt es keine Reinheit, und das ist doch sehr erfreulich.“ Wir glauben, damit ist alles gesagt.