Erntehelfer statt Ingenieur
Jasbir Singh ist ein Ingenieur aus dem indischen Chandigarh. Jetzt pflückt er Beeren im Alentejo. Warum das attraktiv ist? Ein Gespräch
Herr Singh, warum sind Sie von Indien nach Europa ausgewandert?
Mein Bruder hat in Spanien als Erntehelfer gearbeitet. Ich wollte das auch probieren. In Indien habe ich Ingenieurwesen studiert und auch in dem Bereich gearbeitet, aber die Löhne sind niedrig, und es ist schwer, sich damit etwas aufzubauen.
Wie sind Sie dann in Portugal gelandet?
Ich habe einer Arbeitsvermittlungsfirma in Indien umgerechnet rund 10.000 Euro bezahlt, für Flugticket, Touristenvisum, Papiere und so weiter. Als ich in Spanien ankam, bin ich aber sofort nach Portugal, weil man hier schneller eine Aufenthaltserlaubnis zum Arbeiten bekommt.
Es gibt Vorwürfe, dass Migrantinnen und Migranten in Portugal von den Unternehmen sehr schlecht behandelt werden. Stimmt das?
Ich hatte bisher Glück. Auf den beiden Plantagen, auf denen ich gearbeitet habe, wurden wir gut behandelt. Aber es gibt Unternehmen hier in der Gegend, bei denen das nicht so ist. Viele meiner Kollegen und Kolleginnen stehen unter einem sehr hohen Druck, sie werden dazu gezwungen, sehr schnell zu arbeiten. Manchmal dürfen sie noch nicht einmal bei der Arbeit Wasser trinken, obwohl in den Gewächshäusern im Sommer die Temperaturen schnell über vierzig Grad erreichen können. Das ist unmenschlich.
Was tut man dagegen? Sind die Erntehelfer in einer Gewerkschaft organisiert, um ihre Rechte einzufordern?
Nein, das gibt es hier nicht. Wir müssen uns an die Öffentlichkeit wenden, über die Medien. Nur so können wir Druck aufbauen und Dinge verändern.
Fühlen Sie sich wie ein moderner Sklave?
Ich nicht. Ich bin frei. Ich kann jederzeit kündigen, wenn die Arbeitsbedingungen nicht stimmen. Ich fühle mich hier bei meinem Arbeitgeber sehr wohl. Ich bin mittlerweile fester Angestellter und habe auch eine Gehaltserhöhung bekommen, das heißt, ich verdiene jetzt deutlich mehr als den Mindestlohn von 705 Euro im Monat.
Wie leben Sie in Portugal?
Das größte Problem sind die Wohnverhältnisse. Es gibt in dieser dünn besiedelten Gegend nicht genügend gute Unterkünfte. Da ging es mir in Indien viel besser. Und die Mieten sind mittlerweile so hoch, dass häufig viele Leute in nur einem Zimmer oder in Containersiedlungen direkt auf den Feldern wohnen müssen. Außerdem gibt es nur sehr schlechte Verbindungen mit dem öffentlichen Nahverkehr.
Heißt das, Sie wollen lieber wieder weg aus Portugal?
Nein, ganz und gar nicht. Wir verdienen hier zwar weniger als in anderen europäischen Staaten, aber ich mag Portugal. Ich mag die Menschen, sie sind hilfsbereit, ich spüre keinen Rassismus. Es gibt fast keine Kriminalität. Außerdem haben wir alle Anspruch auf eine kostenlose Gesundheitsversorgung, das ist sehr viel wert. Und im Sommer fahren wir nach der Arbeit an den Strand und genießen das Meer. Nächstes Jahr werde ich die portugiesische Staatsangehörigkeit beantragen. Das geht hier bereits nach fünf Jahren – so schnell wie in keinem anderen EU-Land. Dann könnte ich auch nach Frankreich gehen und dort in der Landwirtschaft arbeiten, das machen viele meiner Kollegen und Kolleginnen. Aber ich fühle mich hier wohl.
Das Interview führte Tilo Wagner