Lebenswege | Großbritannien & Deutschland

Eine heilsame Reise

Auf einem Trip nach Brasilien fasste der Autor Musa Okwonga den Entschluss, seine Heimat Großbritannien zu verlassen. Über ein Leben zwischen Berliner Alltag und Gedanken an Uganda

Musa Okwonga lehnt an einem Geländer, er lächelt in die Kamera. Im Hintergrund sieht man die Oberbaumbrücke in Berlin.

Musa Okwonga vor der Berliner Oberbaumbrücke

Ich wurde Ende 1979 in Großbritannien geboren. Zuvor waren meine Eltern vor Idi Amins Regime aus Uganda nach England geflohen. Sie studierten Medizin und zeugten mich und vier weitere Kinder. Anfang der 1980er-Jahre ging mein Vater nach Uganda zurück. Er arbeitete als Militärchirurg für eine Widerstandsgruppe, die gegen Rebellen unter der Führung von Yoweri Museveni kämpfte, der bereits seit 1986 Staatspräsident ist.

Mit vierzig Jahren kam mein Vater dann bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben. Ich war damals vier Jahre alt. Meine Kindheit verbrachte ich zusammen mit meiner Mutter und meinen Geschwistern in West Drayton, einer Vorstadt von London. Für meine Mutter war Bildung stets das A und O. Deshalb schickte sie mich auf Privatschulen.

Fünf Jahre besuchte ich das Elite-Internat Eton College, genauso wie Boris Johnson, David Cameron und andere hochrangige Politiker, die das Land in den vergangenen Jahren in den Ruin getrieben haben. In meiner Zeit in Eton hatten nur vier von 1.250 Schülerinnen und Schülern meine Hautfarbe.

An rassistische Übergriffe erinnere ich mich tatsächlich kaum. Dafür aber an gelegentliche Ausgrenzung und ganz viel Ignoranz: Der Vater eines Freundes hielt mich zum Beispiel zeit seines Lebens für einen ugandischen Spion.

„Einer von ihnen fragte mich: „Warum lebt so ein Kosmopolit wie du noch in Großbritannien?“ Ich solle lieber nach Berlin gehen, empfahl er mir.“

In Oxford studierte ich später Jura. Danach war ich als Dichter, als Autor, als Sportjournalist und als Musiker tätig. Ich schrieb und redete über alles, was mich interessierte: Kultur, Politik, Fußball, Technologie und Race Relations. Doch dann veränderte sich mein Leben ganz unerwartet mit einem Schlag.

Im Vorfeld der Fußball-WM 2014 sollte ich in Brasilien einen Dokumentarfilm für die BBC drehen. Auf dem Hinflug dorthin lernte ich zwei brasilianische Architekten kennen. Einer von ihnen fragte mich: „Warum lebt so ein Kosmopolit wie du noch in Großbritannien?“ Ich solle lieber nach Berlin gehen, empfahl er mir.

Für den Gedanken war ich damals sehr empfänglich. Wohl auch, weil ich in Brasilien tagtäglich britische Zeitungen las und von dem Hass auf Migranten, der mir darin entgegenschlug, schockiert war. Das führte mir noch mal vor Augen, dass ich in Großbritannien nie als echter Engländer durchgehen würde. Als Schwarzer Mensch bekommt man dort stets das Etikett „Black British“ verpasst, selbst wenn man für die Fußballnationalmannschaft spielt.

Nach meiner Rückkehr aus Brasilien sagte ich zu meiner Mutter: „Ich kann nicht in einem Land wohnen, das Migranten verachtet. Du hast als Ärztin so viel für die Menschen hier getan, und trotzdem hassen sie uns.“ 2015 zog ich dann tatsächlich nach Berlin.

„Berlin ist für mich eine Stadt der Extreme.“

Durch mein Leben in Deutschland gewann ich Abstand von der britischen Politik und konnte mich voll aufs Schreiben konzentrieren. In Berlin gibt es lauter Kunsträume, Musikstudios, Poetry- Slams und noch dazu breite Straßen und sogar Seen und Wälder; physische Freiräume, die mir als Künstler auch geistige Freiräume ermöglichen. Kaum war ich hier, konnte ich mich besser konzentrieren und war produktiver.

Zunächst veröffentlichte ich 2015 eine Lyriksammlung, danach schrieb ich vier Bücher: den autofiktionalen Roman „Es ging immer nur um Liebe“, „One of Them: An Eton College Memoir“ und zwei Romane für Kinder. Außerdem mache ich zusammen mit der Spoken-Word- und Bass-Gruppe BBXO Musik und moderiere mit einem Freund den Fußball-Podcast „Stadio“.

Berlin ist für mich eine Stadt der Extreme. „Früher oder später wird Berlin dir einen Schlag in die Magengrube versetzen“, schrieb ich deshalb einmal. Ich selbst spürte diesen Schlag, als ich herausfand, dass es nicht weit von meinem Haus eine Nazikneipe gibt. Damit musste ich emotional erst mal klarkommen. Mit der Zeit habe ich mir dann aber ein dickeres Fell zugelegt und gelernt, mit der Tatsache umzugehen, dass progressive Demos und Rechtsextremismus hier koexistieren.

„Es gibt zwar Fotos, auf denen wir beide zusammen zu sehen sind, aber meine früheste Erinnerung ist mein Vater im Sarg.“

„Es ging immer nur um Liebe“ entstand kurz vor meinem vierzigsten Geburtstag und war das Produkt einer Krise. Nicht etwa einer Midlife-Crisis, sondern eher einer „Das-Leben-ist-zu-Ende“-Krise. Weil mein Vater im Alter von vierzig Jahren gestorben war, konnte ich mir schlicht nicht vorstellen, wie es für mich weitergehen würde.

So richtig befreit von diesen Gedanken habe ich mich erst gefühlt, als ich 2018 das Heimatdorf meines Vaters besuchte. Erst dort merkte ich, wie  traumatisiert ich war, auch weil mein Vater starb, bevor ich ihn richtig kennenlernen konnte.

Es gibt zwar Fotos, auf denen wir beide zusammen zu sehen sind, aber meine früheste Erinnerung ist mein Vater im Sarg. Das hat mich geprägt und schneller erwachsen werden lassen. Als ich ein kleiner Junge war, nannte meine Familie mich im Scherz immer „der alte Mann“. Als Erstgeborener darfst du eben nicht den Halt verlieren.

Protokolliert von Jess Smee