Familie | Großbritannien

„Meine Mutter hatte etwa 12 Jobs“

Zwischen religiösem Fanatismus und Geschwisterliebe: Die Autorin Kit de Waal schildert ihre Kindheit der Extreme – und beschreibt, wie diese ihr Verhältnis zu den eigenen Adoptivkindern geprägt hat

Als mein Vater aus dem Inselstaat St. Kitts nach England kam, verfogte er einen Fünfjahresplan. Er war in Armut aufgewachsen und kam nach England, um etwas Geld zu verdienen. Danach wollte er wieder in seine Heimat zurückgehen. Die meisten Menschen, die auswandern, nehmen sich das vor. Doch anstatt nach St. Kitts zurückzukehren, lernte er eine irische Katholikin kennen, die nicht verhütete.

Fünf Jahre später hatte er fünf Kinder und saß in Birmingham fest. Bis zu seinem Tod sprach er davon, nach Hause zurückzugehen. Für ihn war das nie Birmingham oder das Haus, in dem wir wohnten. Seine Heimat war die Karibik.

Als meine Mutter meinen Vater kennenlernte, verliebte sie sich in Harry Belafonte, in Sidney Poitier. Sie verliebte sich in alle schwarzen Männer, für die sie jemals geschwärmt hatte. Mein Vater liebte meine Mutter nicht. Er war mit ihr zusammen. Diese Tatsache machte beide Leben meiner Eltern unglücklich und prägte die Atmosphäre, in der ich mit meinen Geschwistern aufwuchs.

Mein Vater gab kein Geld für seine Kinder aus. Er sparte jeden einzelnen Penny, um eines Tages in die Karibik zurückzukehren. Er war ein schöner Mann – und er liebte sich selbst. Es interessierte ihn nicht, Lebensmittel zu kaufen oder das Haus zu reparieren, aber er trug wunderschöne Anzüge aus Mohair und eine rote Seidenkrawatte mit passenden Taschentüchern, Manschettenknöpfen und Seidensocken. Das Zimmer, in dem mein Vater saß und Filme guckte, war der einzige beheizte Raum im ganzen Haus"

„Das Zimmer, in dem mein Vater saß und Filme guckte, war der einzige beheizte Raum im ganzen Haus“

Im Winter gab es nur einen einzigen beheizten Raum im ganzen Haus: Es war das Zimmer, in dem mein Vater saß und Filme guckte. Wir saßen alle schweigend um ihn herum, während er „Die Spur des Falken“, „Casablanca“ und all die anderen alten Klassiker anschaute. In den Pausen drehte er sich um und fragte einen von uns: „Wie heißt der Regisseur?“, und man musste die Antwort wissen. Wir haben auf diese Weise viel über Filme gelernt, auch wenn unser Lehrer durchaus tyrannische Züge hatte.

Zur gleichen Zeit hatte meine Mutter ungefähr zwölf Jobs gleichzeitig, um uns zu ernähren und einzukleiden. Zu allem Überfluss litt sie auch noch unter schweren psychischen Problemen. Einmal kaufte sie mitten im heißesten Sommer Lederhosen für meinen Bruder. Für sich selbst besorgte sie einen Hut mit einem Pelzschwanz und einer Mundharmonika.

Sie saß den ganzen Sommer über auf der Veranda und versuchte, ein Lied namens „Beautiful Dreamer“ zu spielen, während wir furchtbar hungrig waren, weil wir nicht genug zu essen hatten. Für uns war das normal: Alle sechs Monate hatte sie eine neue bizarre Obsession.

Meine vier Geschwister und ich waren immer ein enges Team und verbündeten uns gegen unsere Eltern. Wir hatten keine andere Wahl. Ich habe meine Kindheit nur dank meiner Brüder und Schwestern überlebt. Meine Eltern hatten beide einen eher begrenzten Horizont. Sie waren nicht an neuen Ideen oder an Politik interessiert. Aber eine Laune des Schicksals wollte es, dass sie fünf intelligente Kinder hatten.

Wir waren wissbegierig und klug, also machten wir uns ständig über sie lustig. Das war im Grunde unser größtes Vergnügen. Im Nachhinein mag das vielleicht grausam klingen, aber indem wir lachten und uns über ihr seltsames Verhalten und unsere Armut amüsierten, konnten wir mit unseren schwierigen Lebensumständen umgehen. Unser Ziel war es, uns gegenseitig zum Lachen zu bringen.

„Es war eine zugleich katastrophale und glückliche Kindheit“

Wenn das Sozialamt auf uns aufmerksam geworden wäre, hätten sie uns unseren Eltern weggenommen, da bin ich mir ganz sicher. Aber irgendwie haben wir es geschafft, unter dem Radar zu bleiben. Es war eine zugleich katastrophale und glückliche Kindheit.

Als ich sechs Jahre alt war, trat meine Mutter den Zeugen Jehovas bei – und von da an wurde alles noch schlimmer. Die Religion der Zeugen Jehovas ist wahrscheinlich die freudloseste Religion, die es gibt. Es gibt keine Geburtstage, kein Weihnachten, keine Feiern am Lagerfeuer, kein Ostern, keinen Muttertag. Nichts von alledem. Das Schwierigste daran, mit einer sehr gewissenhaften Zeugin Jehovas als Mutter aufzuwachsen, war die lange Liste der Dinge, die man nicht tun durfte. Ich habe sie trotzdem alle gemacht.

Mit zehn Jahren rauchte ich meine erste Kippe. Ich habe mich mit Jungs getroffen. Ich habe Geld aus der Hosentasche meines Vaters gestohlen. Ich habe geflucht wie ein Seemann. Und wegen all meiner Sünden war ich überzeugt, dass ich das Erwachsenenalter niemals erreichen und niemals selbst Kinder haben würde. Ich war mir absolut sicher, dass ich in dem Moment sterben würde, in dem Gott das Jüngste Gericht über uns brächte.

„Mit 16 Jahren bin ich von zu Hause weggegangen. Aber es dauerte lange, bis mich die Angst verließ“

Mit 16 Jahren bin ich von zu Hause weggegangen. Aber es dauerte lange, bis mich die Angst verließ. Ich erinnere mich noch lebhaft an einen Vorfall, der sich ereignete als ich etwa 22 Jahre alt war. Ich war in der Innenstadt von Birmingham unterwegs und plötzlich wurde es mitten am Tag stockdunkel. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass nun das Ende der Welt nahte. Im Nachhinein merkte ich dann aber, dass es nur ein heftiges Unwetter war.

Meine drei Schwestern und ich wurden von den Zeugen Jehovas aus der Gemeinschaft verbannt, als wir der Religion schließlich den Rücken gekehrt hatten. Das bedeutete, dass unsere Mutter nie mehr mit uns sprechen sollte. Wenn man verbannt wird, wird man gemieden. Auch in dieser Hinsicht ist die Religion sehr streng. Infolgedessen hat meine Mutter ihre Enkelkinder nie kennengelernt. Das habe ich bis heute nicht verwunden.

Wenn man in einer solchen religiösen Umgebung aufwächst, wirkt sich das für den Rest des Lebens auf die eigene Psyche aus.

„Heute habe ich zwei Adoptivkinder, deren Großmutter sie nicht kennt“

Heute habe ich zwei Adoptivkinder, deren Großmutter sie nicht kennt. Ich habe das Adoptionsverfahren zweimal durchlaufen müssen, weil ich keine eigenen Kinder bekommen kann. Als ich adoptierte, ging es zunächst nur um mich. Ich war so überglücklich vor lauter Liebe zu ihnen.

Als ich älter wurde, merkte ich, wie unwichtig meine Bedürfnisse im Vergleich zu den Bedürfnissen der Kinder sind. Ich bin an meiner Elternrolle gewachsen. Aber am Anfang war ich völlig egoistisch. Ich wollte einfach jemanden, dem ich meine Liebe geben kann. Ich habe nicht darüber nachgedacht, wie es sich auswirkt, wenn meine Kinder mich auch zurück lieben.

In meinen Texten und Büchern geht es oft um Familie, und zwar nicht nur biologische Familienmitglieder. Doch trotz dieses großen Fokus schreibe ich sehr selten über meine eigenen Kinder. Es ist ihre Geschichte, darum finde ich, dass es nur sie selbst etwas angeht. Nur über die Liebe, die mich für meine Kinder überkommt, habe ich einmal einen kleinen Text geschrieben:

Seht, wie ich Euch liebe

Seht, wie ich meinen Schoß für die Sozialarbeiterin öffne, während sie an preiswerten Keksen mit einem Überzug aus Milchschokolade knabbert, individuell in Folie verpackt und serviert auf meinem besten Teller.

Seht, wie ich die Kinder anderer Leute anlächle.

Seht, wie ich warte.

Seht, wie ich mir Euch vorstelle, daumennuckelnd im Kinderbett in einem Küstenort, während Ihr davon träumt, dass Euch jemand auffängt.

Ich werde Dir Bambi mitbringen, weich und braun, und es wird von all dem gnadenlosen Beschmustwerden auseinanderfallen, wenn Du vierzehn bist und Dein Mobiltelefon entdeckst.

Ich sehe Dich in einer Stadt im Norden, in einem Reihenhaus, zu dicht an einem fauchenden Feuer, in neuen Schuhen,

die ich Dir für Deine ersten Schritte in einem Raum ohne Teppichboden gekauft habe.

Ich werde Dir unzerstörbare Nike-Sneaker kaufen, bevor Du sie brauchst, bevor Du danach fragst.

Ich werde Euch beide mit Dingen überschütten, die wir nie zu besitzen gehofft hatten.

Seht, wie wir darauf gewartet haben, zu lieben.


Protokolliert von Gundula Haage während des Literaturseminars „Class and Contemporary UK Writing“ in Berlin, 2023