Familie | Großbritannien

Ein stiller Abschied

Von klein auf empfindet Daljit Nagra einen Graben zwischen sich und seinen Eltern. Er findet sie engstirnig, ihnen missfällt seine „westliche“ Sozialisation. Ein Rückblick

Von klein auf fand ich meinen Vater beängstigend. Er ist ein heftiger Trinker und Ringer – ein riesiger, starker, muskulöser Typ. Wenn er nüchtern war, redete er nicht mit mir oder meinem Bruder, oder er sagte furchtbare Dinge. Oft bezeichnete er mich als „behindert“, weil ich Asthma habe. Auch mein Bruder war für ihn ein Schwächling. Nur wenn er getrunken hatte, konnte er halbwegs nett zu uns sein. Meine Mutter hingegen lebte und dachte sehr traditionell, auch nachdem sie mit meinem Vater nach London ausgewandert war.

Sie war ein ungebildetes Mädchen aus einem Dorf und es gelang ihr nie, sich an die britische Lebensweise anzupassen. Irgendwann fing ich an, auch meine Mutter beängstigend zu finden. Ich konnte ihr nichts anvertrauen. Sie erzählte es jedem weiter. Also behielt ich alles für mich.

Meine Mutter und mein Vater waren beide sehr machohaft. Wenn jemand auf dem Spielplatz etwas Gemeines zu mir sagte, rieten sie mir: „Geh hin und hau ihn!“ Schon als kleines Kind wusste ich deshalb, dass ich meine eigene Art und Weise finden musste, mit Problemen umzugehen. Als ich etwa 13 Jahre alt war, lernte ich dann einige gebildete Punjabis kennen. Sie hatten einen riesigen Hindi-Wortschatz und ich verstand oft nicht, was sie sagten.

Erst da wurde mir klar, wie primitiv und beschränkt die Sprache meiner Eltern war, weil sie vom Land stammten und kaum Schulbildung genossen hatten. Das war ein Schock für mich.

„Zu einem Elternabend gingen meine Eltern nie: Sie wussten gar nicht, dass es so etwas gab!“ 

Mein Vater kam 1958 nach Großbritannien, um in einer Fabrik zu arbeiten, und meine Mutter folgte ihm ein paar Jahre später. Sie waren Teil einer großen Einwanderungswelle aus Indien ab Mitte der 1950er-Jahre. Die Immigranten wurden zum Wiederaufbau des Landes eingesetzt und schufteten oft in Fabriken, die rund um die Uhr produzierten. Meine Eltern fühlten sich im Vereinigten Königreich immer wie Fremde. Zunächst zogen sie nach West-London, wo viele indischstämmige Menschen lebten.

Das war quasi ein kleiner Subkontinent in Großbritannien. Im Laufe der Jahre machten sie allerdings viele schlechte Erfahrungen mit weißen Menschen. Sowohl in den Fabriken, in denen sie sich ungleich behandelt fühlten, als auch in der armen Gegend im Norden von Sheffield, in der sie später ein Geschäft eröffneten. Sie hatten mit vielen Anfeindungen zu kämpfen und schotteten sich entsprechend von der Außenwelt ab. Deshalb lernten sie das Land, in dem sie lebten, nie richtig kennen.

Obwohl sie seit etwa fünfzig Jahren in Großbritannien sind, wissen sie fast nichts über die Menschen hier. Als sie meine zweite Frau kennenlernten, waren sie ganz überrascht zu hören, dass ihre Eltern sie nicht rausgeschmissen hatten. Sie waren fest davon überzeugt gewesen, dass alle Weißen ihre Kinder mit 16 Jahren aus dem Haus werfen.

Natürlich haben unsere Eltern mir und meinem Bruder auch einige Werte vermittelt, zum Beispiel, dass es wichtig ist, hart zu arbeiten und ehrlich zu sein. Diese Lebenseinstellung hat allerdings auch dazu geführt, dass sie permanent malocht haben und wir sie in unserer Kindheit nur selten zu sehen bekamen.

Als ich in die Grundschule kam, fing ich dann an, mich für meine Eltern zu schämen. Plötzlich fiel mir auf, dass meine Mutter traditionelle indische Kleidung trug und nach Gewürzen roch. Manchmal ging ich ihr deshalb sogar in der Öffentlichkeit aus dem Weg. Nicht zuletzt, weil andere Kinder rassistische Bemerkungen machten. Ich war eines von drei nicht-weißen Kindern in meiner Grundschule, Rassismus gehörte zum Alltag. Und auch in der weiterführenden Schule war ich eines von wenigen nicht-weißen Kindern, obwohl dort tausend Schüler unterrichtet wurden. Zu einem Elternabend gingen meine Eltern nie: Sie wussten gar nicht, dass es so etwas gab!

„In der Schule wurde ich westlich sozialisiert. Das missfiel meinen Eltern. Sie wollten immer, dass aus mir ein traditionsbewusster indischer Sikh wird.“

Zu Hause war ich derweil zuständig dafür, alle möglichen Formulare auszufüllen, weil meine Eltern nicht auf Englisch schreiben konnten. Das war einerseits großartig, weil ich schon früh die volle Kontrolle über mein Leben hatte. Wären meine Noten zum Beispiel nicht gut gewesen, dann hätten meine Eltern das wohl erst am Ende meiner Schullaufbahn gemerkt. Andererseits lastete viel Verantwortung auf meinen jungen Schultern.

Noch heute erinnere ich mich, wie ich im Alter von acht Jahren mit meinem Großvater ein Bankkonto eröffnete. „Sie müssen das unterschreiben, nicht Ihr Enkel!“, sagte die Bankangestellte damals und zeigte auf das Formular, das ich für ihn ausgefüllt hatte. Also nahm mein Großvater einen Stift in die Hand und malte mit zittriger Hand ein großes X aufs Papier. „Nein, ich brauche eine Unterschrift“, verlangte die Frau. Doch wir hatten beide keine Ahnung, was das bedeutete. Hinter uns bildete sich eine lange Schlange, und ich habe mich selten so gedemütigt gefühlt.

In der Schule klaffte derweil mit der Zeit eine immer offensichtlichere Lücke zwischen mir und meinen Mitschülern. Wörter, die für sie alltäglich waren, „Standstreifen“ und „Zeitspanne“ zum Beispiel, verstand ich nicht – und während sie mit ihren Familien in den Urlaub fuhren, saß ich zu Hause vor dem Fernseher. Meine Familie machte keine Ausflüge, sie arbeitete.

In der Schule wurde ich westlich sozialisiert. Das missfiel meinen Eltern. Sie wollten immer, dass aus mir ein traditionsbewusster indischer Sikh wird. Aus ihrer Sicht muss es furchtbar gewesen sein, mit anzusehen, wie sich ihr Sohn in etwas so Fremdes verwandelte, westliche Musik hörte und sprach wie ein „Gora“, ein indisches Wort für einen Weißen. Ich glaube, damals fingen auch sie an, sich für mich zu schämen. Weder konnte ich indische Schriften entschlüsseln, noch interessierte ich mich besonders dafür. Meine Entscheidung, Englisch zu studieren, brachte das Fass dann endgültig zum Überlaufen. Ihr Wunsch, dass ich einen gut bezahlten Job anstrebe, so wie Arzt oder Ingenieur, war damit begraben. 

Ich fühlte mich mich von meinen Eltern zurückgewiesen, und im Gegenzug wies ich sie zurück. Dieses Gefühl ist bis heute geblieben. Ich habe nie wirklich eine starke Verbindung oder eine besondere Zuneigung zu meinen Eltern verspürt. Manchmal macht das alles leichter, weil es mich davon befreit, Teil einer Familie zu sein. Manchmal ist es aber auch traurig zu wissen, dass meine Eltern in vielerlei Hinsicht enttäuscht wurden. Sie träumten zum Beispiel lange davon, dass wir eines Tages als Familie nach Indien zurückkehren würden. Stattdessen zog mein Bruder nach Kanada und ich wollte bleiben, wo ich war. Am Ende gingen sie nach ihrer Pensionierung allein nach Indien zurück. Allerdings nur kurz, denn sie vertrugen die Hitze dort nicht. 

Blicke ich heute zurück, dann erinnere ich mich auch an die Ehe, die meine Eltern für mich arrangierten. Irgendwie war das skurril: Obwohl meine Eltern eindeutig unglücklich miteinander waren, hielten sie das Prinzip der arrangierten Ehe für eine gute Sache. Ihre Generation sah darin wohl die Möglichkeit, die kulturellen Werte aus dem ländlichen Indien zu bewahren und in den Westen zu verpflanzen. Weil ich damals nicht das größte Selbstbewusstsein hatte, gab ich nach und fügte mich meinem Schicksal.

Die ausgewählte Braut und ich heirateten und verbrachten ein paar Jahre zusammen, aber natürlich war das nicht das Richtige für mich. Trotzdem kostete es mich viel Überwindung, mich scheiden zu lassen. Auch weil „izzat“, die Familienehre, bei meinen Eltern immer Priorität hatte. Als ich mich dann doch scheiden ließ, war das natürlich ein großer Einschnitt. Ich musste sogar wegziehen, weil es zu viel Unbehagen auf beiden Seiten gab.

„Mittlerweile kenne ich viele Menschen, die eine enge Beziehung zu ihren Eltern haben, aber ehrlich gesagt fällt es mir schwer, das zu verstehen.“

Später, als ich selbst Vater wurde, musste ich sehr aufpassen, die distanzierte Beziehung, die ich zu meinen Eltern hatte, nicht mit meinen eigenen Kindern zu replizieren. Dass meine zweite Frau Erziehungspsychologin ist, hilft mir dabei. Wir haben heute zwei Töchter und ich habe gelernt, ihnen ihre privilegierte Kindheit nicht zu neiden. Ich musste mir mit meinem Bruder ein Zimmer teilen, bis ich 15 Jahre alt war. Sie hatten schon früh jede ihr eigenes Zimmer und viele andere Dinge, deren Existenz ich in ihrem Alter nicht einmal hätte erahnen können. Mittlerweile kenne ich viele Menschen, die eine enge Beziehung zu ihren Eltern haben, aber ehrlich gesagt fällt es mir schwer, das zu verstehen. 

Inzwischen spreche ich zwar wieder öfter mit meinen Eltern, ein paarmal im Jahr, und gebe mir dabei immer große Mühe, mich nicht im Ton zu vergreifen. Wenn ich sie besuche, bleibe ich allerdings trotzdem nie länger als eine halbe Stunde, weil ich weiß, dass die Stimmung schnell kippen kann. Sie sagen Dinge wie: „Hast du von ... gehört? Der verdient jetzt richtig viel Geld. Wie viel verdienst du?“ Für sie dreht sich bis heute alles nur ums Geld.

Trotzdem merke ich, dass meine Eltern jetzt, wo sie älter werden, Wert auf meine Anwesenheit legen. Von Zeit zu Zeit schaue ich deshalb bei ihnen vorbei und fülle irgendwelche Formulare für sie aus, so wie früher. Für mein Leben interessieren sie sich aber immer noch nicht, und ich fühle keine Nähe, wenn ich sie sehe.

Bis heute erkundigen sich meine Eltern nie danach, was ich schreibe, oder sprechen mich auf meine Gedichte an. Für sie ist Dichtung ein religiöses Unterfangen. Die einzige Poesie, die ihnen nah ist, stammt aus geistlichen Schriften. Meine Auszeichnungen oder die Rolle, die ich im Kulturbetrieb spiele, bedeuten ihnen wenig bis gar nichts. In gewisser Weise gleicht meine Biografie also der eines Pflege- oder Adoptivkindes: Ich habe eine Identität gefunden, die mit meinen Eltern recht wenig zu tun hat. Aber ein gewisser Groll bleibt: zum Beispiel darüber, dass meine Mutter und mein Vater nicht so liebevoll und gütig waren, wie ich es mir erhofft hätte; und dass es in ihrem Leben immer nur ums Geldverdienen ging.

Ich glaube, sie sind bis heute frustriert, dass ich kein Arzt oder Geschäftsmann geworden bin. Mit mir als Dichter können sie jedenfalls nichts anfangen.

Protokolliert von Jess Smee und Gundula Haage während des Literaturseminars des British Council Berlin „Class and Contemporary UK Writing“ (März 2023)
Aus dem Englischen von Caroline Härdter