Leben am Wasser | Großbritannien

Ungezügelte Naturgewalt

Schon im Bauch ihrer Mutter reiste unsere Autorin über das Meer. Heute macht sie sich Gedanken über das exzentrische Element Wasser.
Ein Porträt von einer mittelalten Frau. Sie hat kurzes Haar mit Pony, trägt Brille und einen weinroten Schal.

Die Schriftstellerin Allison Louise Kennedy

Im ersten Kapitel von „Moby Dick“– diesem anschwellenden, wirbelnden und fließenden Epos – beschreibt Herman Melville das menschliche Bedürfnis, auf Wasser zu blicken. Er erinnert uns daran, dass uns eine Landschaft ohne Wasser unvollständig erscheint und wie sehr wir es lieben, irgendwo hochzuklettern, um den besten Blick auf das Blau zu erhaschen, seinen wilden Atem zu spüren. Natürlich benötigen wir Wasser zum Leben und bestehen zum größten Teil daraus. Aber einige von uns brauchen auch eine Beziehung zu ihm, wir wollen es ganz nah bei uns haben, seine Launen spüren. Traditionell leben Gemeinschaften, die vom Meer abhängig sind, in Häusern in Ufernähe, aber mit dem Rücken zum Wasser.

Das liegt wohl auch daran, dass Seeleute wissen, welchen Schaden ein Sturm anrichten kann, und vielleicht liegt darin auch ein stummer Vorwurf gegen ein Element, das uns erdrücken, ersticken und fortreißen kann, diese immerwährende höhere Gewalt. Auf dem Wasser zu sein, bedeutet eine Überflutung unserer Sinne mit lebenswichtigen Informationen – und dass wir wachsam und vorausschauend sein, mit mehreren Wechselfällen und Unbekannten rechnen müssen. Ein Haus, das sich mit den Schultern an das Meer anlehnt, bietet eine Atempause von dieser Geschäftigkeit, aber mit Blick darauf.

Das Wasser gebietet Ehrfurcht, es verbirgt Berge und Bestien und setzt sich über kleinliche Sorgen hinweg, wie eine Materie gewordene Meditation. Wir arbeiten auf Schiffen, reisen auf dem Wasser, spielen in ihm, erfreuen uns an den seltsamen Fähigkeiten, die wir entwickeln, um dabei zu überleben. So, wie der Mond das Wasser ruft und es um den Globus bewegt, so sehnt sich das Wasser in uns nach der ungezügelten Naturgewalt. Draußen in der Wildnis des Wassers begegnen wir uns selbst, gleiten über Mysterien hinweg, werden in Geheimnisse eingeweiht und verwandeln uns.

Wie Melvilles Protagonist sagen würde: Wann immer er unzufrieden genug ist, um Fremden die Hüte vom Kopf zu schlagen, besteht die Lösung darin, ein Schiff zu besteigen und zur See zu fahren. Für diejenigen, die nicht auf dem Wasser arbeiten, gibt es eine Alternative auch jenseits des Wassersports – in einem Haus in Sichtweite des Meeres zu leben, an Bord eines Schiffes also, das niemals untergehen kann.

„Das Leben am Wasser hat natürlich auch seine Nachteile“

Wie der Zufall es will, begann meine persönliche Liebe zum Wasser schon vor meiner Geburt. Als Frischvermählte lebten meine Eltern – wie viele Briten damals – eine Zeit lang in Australien, um Geld zu verdienen. Als meine Mutter mit mir schwanger wurde, reisten sie mit dem Ozeandampfer nach Hause. Ich schaukelte im Binnenmeer des Mutterleibs, so wie meine Mum mit dem Schiff und das Schiff auf hoher See. Als kleines Mädchen litt ich unter Übelkeit beim Fliegen, Übelkeit beim Autofahren und Übelkeit bei Nervosität, aber mit dem Schiff zu reisen, entspannte mich. Noch heute schlafe ich an Bord eines Schiffes sofort ein und träume süß.

Da ich in Schottland an einer scheinbar endlos sich dahinwindenden Küste aufwuchs und immer das Wasser im Blick hatte, sollte ich später in Häusern, die allzu weit vom Glimmern und Glitzern großer Gewässer entfernt waren, nie ganz glücklich sein. Es war unvermeidlich, irgendwann musste ich einfach in ein Haus in Wassernähe ziehen, dessen Fenster nach Stürmen salzig schimmern, wo man Seevögel hört, den Schlamm und Nebel riecht und wo die Wellen im Zwölf-Stunden-Takt heranrollen.

Das Leben am Wasser hat natürlich auch seine Nachteile. An sonnigen und an Feiertagen bekommen wir Besuch von unseren Mitmenschen. Leute, die fürgewöhnlich auf das Wasser blicken und sich von seiner ewigen Ruhelosigkeit beruhigen lassen, und exaltierte Tagesausflügler, Wasserrowdys, die sich lärmend durch die Fluten walzen, sind nicht wirklich füreinander bestimmt.

Lieben wir das Wasser, werden wir wahrscheinlich auch irgendwann dort landen – es ruft sehr laut, wenn wir nah genug dran sind. Wassermenschen helfen und ermutigen einander. Die anderen, die nicht regelmäßig aufs Wasser gehen, können sie nicht ganz verstehen. Es liegt auf der Hand, dass Wasserhobbys, sofern es sich nicht wirklich um die allereinfachsten handelt, etwas kosten. Aber auf dem Wasser zählt Geschicklichkeit oft mehr als Luxusbesitz, selbst auf einer Insel, die sich mehr und mehr darauf verlegt hat, Oligarchen und andere Käufer schneller, protziger Boote zu verhätscheln.

Wo es darum geht, durch Wind und Wellen zu navigieren, bringt gutes Handwerk immer noch klare Formen hervor. Ein völlig hässliches Boot lässt sich nur schwerlich bauen. Und wenn alle durchnässt, mit Schlamm oder Sand bedeckt und müde von einer schönen Tätigkeit sind, verschwimmen auch die Statusunterschiede auf wunderbare Weise.

„Für viele Gebiete in England und Wales besteht der einzige Hochwasserplan darin, dass es eine Liste mit Evakuierungsplätzen für Überschwemmungsopfer gibt“

Aber alle hassen Jet-Ski-Fahrer. Womöglich hassen sie sich sogar untereinander. Das wollen wir anderen lieber nicht so genau wissen. Als wären der Lärm und das Chaos, das die Tagesausflügler bringen, nicht schlimm genug, muss sich das britische Wasservolk jetzt auch noch mit unberechenbaren Abwassereinleitungen herumschlagen. Der zwanghafte Hass unsrer Regierung auf Sicherheitsstandards jeglicher Art betrifft jetzt alle, die am Wasser Trost suchen, Spaziergänger mit ihren Hunden, Drachenflieger, Ruderer, ja, sogar die Jet- Ski-Fahrer. Die Abschaffung aller Vorschriften bedeutet, dass wir mit unseren Kajakpaddeln zukünftig in radioaktiven Abfällen und giftigen Abschwemmungen aus der Landwirtschaft herumstochern werden.

Und natürlich steigt der Meeresspiegel. Der 45. US- Präsident hat die Folgen des Klimawandels bekanntlich mit der Bemerkung abgetan, es würden einfach nur „ein paar mehr Grundstücke am Wasser“entstehen. Natürlich werden zuvor die bestehenden Grundstücke am Meer überflutet. In East Anglia, wo ich lebe, geht es nicht um ein paar Küstengrundstücke, hier gilt es, dem Meer ganze Landstriche abzutrotzen. So wie sich East Anglia bei Deichen, Schleusen und Entwässerungssystemen auf niederländisches Know-how verlassen hat, so profitierte das Vereinigte Königreich Ende des 20. Jahrhunderts bei der Infrastruktur für den Hochwasserschutz von Mitteln der EU.

Bei dem Sperrwerk, das meine kleine Gemeinde vor den Fluten schützt, wies früher ein Schild auf die Finanzierung hin. Es wurde entfernt. Wenn eine Nachrüstung ansteht, können wir fast sicher sein, dass die Politiker in Westminster uns ebenso wenig mit neuen Infrastrukturen helfen werden, wie sie das in Cornwall oder Nordengland getan haben.

East Anglia mit seiner faszinierenden Geschichte, seinem reichen Ackerland, seinen wertvollen Salzwiesen und seltenen Vögeln, mit seinen Künstlern und Exzentrikern, die am Ufer wohnen, wird überflutet werden und verschwinden. Für viele Gebiete in England und Wales besteht der einzige Hochwasserplan darin, dass es eine Liste mit Evakuierungsplätzen für Überschwemmungsopfer gibt.

Andererseits musste man schon immer ein Auge auf das Wasser haben, es konnte schon immer Tod und Zerstörung bringen. Wir Wassermenschen hätten wissen müssen, dass wir uns nicht in Sicherheit wähnen können. Und dass unter der Oberfläche schon lange noch etwas auf uns wartet.

Aus dem Englischen von Claudia Kotte