Das neue Polen

Weißer Rauch am Horizont

Das größte Braunkohlekraftwerk der Welt steht in Polen. Nicht nur deshalb tut sich die Regierung in Warschau schwer, endlich eine Energiewende einzuleiten

Hohe Rauchschwaden kommen aus zwei hohen rot-weiß gestreiften und drei breiten Schornsteinen. Vor den Schornsteinen ist ein Wald, davor ein Gewässer.

43 Millionen Tonnen Braunkohle werden im größten Kraftwerk Polens pro Jahr verfeuert

Das Kraftwerk Bełchatów sieht man schon von Weitem: Aus dem flachen Horizont Zentralpolens brechen zwei gigantische Schornsteine hervor, die ununterbrochen weißen Rauch ausstoßen. Hier steht das größte Kraftwerk des Landes. Es ist auch das größte Braunkohlekraftwerk der Welt. 43 Millionen Tonnen Braunkohle werden hier pro Jahr verfeuert, genug, um 22 Prozent des polnischen Energiebedarfs zu decken. Damit ist das Werk auch die größte CO2-Emissionsquelle Europas: 2020 wurden dreißig Millionen Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre gepustet.

Das Kraftwerk fünfzig Kilometer südlich von Lodz wird mit Braunkohle aus den beiden nahegelegenen Tagebauen betrieben, von denen einer direkt neben dem Kraftwerksgelände liegt. Er ist zwölf Kilometer lang, drei Kilometer breit und 200 Meter tief, was ihm den Spitznamen „größtes Loch Europas“ einbrachte. Die Tagebaue und das Kraftwerk sind die größten Arbeitgeber in der Stadt Bełchatów und einem Dutzend benachbarter Gemeinden. Sie selbst beschäftigen etwa 8.000 Menschen, aber noch viel mehr Arbeitsplätze sind an diese Großbetriebe gebunden. Noch läuft der Betrieb auf Hochtouren, aber die Ziele der EU zur Begrenzung der Treibhausgasemissionen könnten für Probleme sorgen. Und sollte es keine politische Entscheidung zum Ausstieg in Bełchatów geben, so kommt das Ende von allein – wenn die Kohlevorkommen zur Neige gehen. Prognosen gehen davon aus, dass eine der beiden Lagerstätten bereits im kommenden Jahr erschöpft sein wird, die andere 2035.

„Als einziges EU-Mitglied hat Polen sich nicht zum Erreichen der Klimaneutralität bis 2050 verpflichtet“

Seit Jahren wird über den Aufschluss eines dritten Tagebaus in der Ortschaft Złoczew diskutiert, doch dazu wird es höchstwahrscheinlich nie kommen. „Das Vorkommen liegt sechzig Kilometer vom Kraftwerk entfernt, der Transport so großer Mengen über diese Distanz wäre nicht wirtschaftlich“, sagt Maciej Kozakiewicz, Experte für Regionalentwicklung. Aufgrund dieser logistischen Herausforderungen wurde der Neubau eines Kraftwerks neben dem neu zu erschließenden Tagebau erwogen. „Das würde mehr als zehn Milliarden Złoty (umgerechnet 2,24 Milliarden Euro) kosten, Kredite müssten aufgenommen werden. Aber angesichts der Klimapolitik würde man heutzutage keine Bank finden, die Geld für den Bau eines Kohlekraftwerks zur Verfügung stellt“, erläutert Marek Józefiak von Greenpeace Polen. Als einziges EU-Mitglied hat Polen sich nicht zum Erreichen der Klimaneutralität bis 2050 verpflichtet. Anfang des Jahres verabschiedete die Regierung ein Gesetz, das eine Richtung für die polnische Energiewende vorgibt. Das Dokument mit dem Titel „Energiepolitik in Polen 2040“ spricht davon, dass die Entscheidung über die Kohlevorkommen von Złoczew vonseiten eines Investors kommen soll. Bełchatów wird in dem Text nur einmal erwähnt – als potenzieller Standort für ein Atomkraftwerk. Der erste Punkt zementiert einen ungewissen Status quo, und an die Umsetzung des zweiten glaubt niemand. Zudem könnten die steigenden Preise für CO2-Emissionsrechte bald dafür sorgen, dass die Stromerzeugung in Bełchatów überhaupt unrentabel wird.

„Den Mitarbeitern des Kraftwerks bereitet die Zukunft ihrer Region Sorgen“

Die Beschäftigten des Energiekomplexes haben die Hoffnung auf eine neue Rohstoffquelle jedoch noch nicht ganz aufgegeben. „Wir sehen ja ein, dass die Energiewende nötig ist, aber so schnell kann man sie doch nicht umsetzen“, sagt Kraftwerksmitarbeiter Bernard*. Mehr als die Sicherstellung der Stromversorgung bereitet den Mitarbeitern die Zukunft ihrer Region Sorgen. „Ohne einen neuen Tagebau wird es nicht mehr so viele Arbeitsplätze geben wie jetzt“, sagt Grzegorz*, der seit vielen Jahren im Bergbau tätig ist. Er fürchtet, dass Bełchatów zur Rentnerstadt wird, wenn die Jungen vor der Arbeitslosigkeit in andere Städte flüchten. „Die Älteren schaffen es noch bis zur Rente, aber die Dreißigjährigen haben überhaupt keine Klarheit darüber, ob es hier in Zukunft für sie noch Jobs geben wird“, erklärt Aleksander*, Inhaber einer Firma, die Bagger instand setzt.

Vertreter des staatlichen Energiekonzerns PGE, der Kraftwerk und Tagebau betreibt, erklären der Presse gegenüber, dass der Aufschluss eines weiteren Tagebaus nicht Teil der Unternehmensstrategie für die kommenden Jahre sei. Einen offiziellen Beschluss dazu gibt es jedoch noch nicht. Über die Zukunft eines dritten Tagebaus in Złoczew wird vermutlich die Nationale Energiesicherheitsagentur entscheiden, eine noch nicht existierende Institution, die die polnische Regierung zur Verwaltung ihres Kohlegeschäfts ins Leben rufen will. Was verspricht man sich von der Gründung? „Dadurch wird der Energiekonzern PGE zu einem grünen Unternehmen. Wenn er die Kohle aus seinem Portfolio verbannt, kann er EU-Fördermittel und Bankkredite für Investitionen in ›grüne Energie‹ erhalten. Und die neu gegründete Agentur ist dann das Sterbezimmer für die Kohlekraftwerke“, erklärt Umweltaktivist Józefiak.

Das könnte bedeuten, dass das Kraftwerk so lange weiterbetrieben wird, bis die Braunkohlevorkommen in dem bestehenden Tagebau Mitte der 2030er-Jahre erschöpft sind. Sicher ist bislang, dass es keinen konkreten Plan zum Kohleausstieg in Bełchatów gibt. Und das bedeutet, dass die Region ihre Chance auf millionenschwere EU-Fördertöpfe verlieren könnte. Die Europäische Kommission arbeitet derzeit an einem Mechanismus, der Finanzhilfen für Regionen bereitstellen soll, die von den Folgen des Umbaus hin zu einer „Green Economy“ bedroht sind. Polen soll 4,4 Milliarden Euro für Investitionen zur Erleichterung des Kohleausstiegs erhalten. 760 Millionen Euro könnten allein in die Region fließen. Das Problem ist nur, dass die Mittel Regionen vorbehalten sind, die die Entscheidung über den Ausstieg schon vollzogen haben.

Doch die Planungen für eine Energiewende in Bełchatów stecken in den Kinderschuhen. Die Betreiberfirma PGE kündigte für die kommenden Jahre den Bau von Windkraftanlagen und Solarparks in der Region an und versicherte gleichzeitig, dass man damit Arbeitsplätze erhalten wolle. Die derzeitige Regierung, so erklärt es der Experte für die Regionalentwicklung Maciej Kozakiewicz, hat kein Interesse an langfristiger Planung. „Sie wissen, dass die Transformation von Bełchatów keine Erfolgsstory wird. Zwar versichert die Regierung, alles sei auf einem guten Weg, aber hinter dieser raffinierten PR steht nur das Ziel, die nächsten Wahlen zu gewinnen“, so Kozakiewicz.

„Planungen für eine Energiewende in Bełchatów stecken in den Kinderschuhen“

Auch wenn es an konkreten Beschlüssen hierzu noch fehlt, scheint die Zukunft der Region einzig und allein in der Abkehr von der Kohle zu liegen. Dieser Prozess kann aber für die lokale Bevölkerung schmerzhaft sein, wenn er nicht von einem Plan zur Schaffung neuer Arbeitsplätze flankiert wird. Darauf verweisen die Autoren des diesjährigen Zukunftsberichts für die Region Bełchatów, Alicja Dańkowska und Przemysław Sadura, der den Titel „Die verschlafene Revolution“ trägt. Ohne gezielte Investitionen und ohne Einbindung der Bevölkerung in den Transformationsprozess könnte Bełchatów dasselbe Schicksal erwarten wie die Bergbaugebiete Nordenglands. Nachdem die Thatcher-Regierung sie ohne begleitende Sozialprogramme stillgelegt hatte, trat eine Vielzahl sozialer Probleme auf, von Arbeitslosigkeit über vererbte Armut bis hin zu Suchterkrankungen.

Wenig hilfreich ist dabei, dass bei Weitem nicht alle Einwohner der Region Bełchatów sich des drohenden Unheils bewusst sind. Im Angesicht einer ungewissen Zukunft treten Diskussionen über das Klima in den Hintergrund. „Wir sind ja für die Umwelt, und wir finden Veränderungen gut, aber eine Transformation im Eiltempo, die unseren gesamten Familien die Lebensgrundlage entzieht, können wir nur schwerlich gutheißen“, sagt Grzegorz*, ein Kumpel vor Ort.

Das Beispiel von Bełchatów zeigt ganz deutlich, welche Spannungen die Energiewende in Polen auslöst. In einem Land, das einen Großteil seines Energiebedarfs aus der Kohle deckt, sind diese Verwerfungen unausweichlich. Sie werden allerdings nicht abgemildert, sondern eher noch verschärft, wenn die Regierung einem entschiedenen Vorgehen bei der Emissionsreduzierung aus dem Weg geht. Eine abrupte Abkehr von der Kohle würde zu einem deutlichen Anstieg sozialer Unzufriedenheit in vielen Regionen führen, nicht nur in Bełchatów. Und das Risiko, bei der nächsten Wahl Stimmen zu verlieren, wäre zu groß.

Aus dem Polnischen von Janina Sachse

* Person wollte nicht mit vollem Namen genannt werden.