Recht und Staat

Das Recht der Stärkeren

Justizreformen in Polen, Disziplinargerichte in Ungarn, ein tief gespaltener Supreme Court in den USA: Vielerorts bröckelt der Glaube daran, dass Recht und Politik unabhängig voneinander existieren. Doch war diese Idee nicht ohnehin illusorisch?

Ein Teil eines Gebäudes. Fünf rechteckige Betonsäulen, deren Abschluss am oberen Ende auf jeder Seite mit einer Waage verziert ist. Darüber die Verglasung des Gebäudes. Auf dem Dach wehen zwei polnische Flaggen in Rot und Weiß.

Oberstes Gericht Polen: Durch Reformen versuchte die polnische Regierung zuletzt, direkten Einfluss auf die Ernennung von Richterinnen und Richtern zu nehmen

Recht kann nur durch Recht entstehen“, so schrieb es einst der Soziologe Niklas Luhmann und schuf damit eine systemtheoretische Fortschreibung des Henne-und-Ei-Rätsels. Denn dass „die Politik“ Einfluss auf das Recht hat, ist gleichwohl evident und banal. Immerhin ist das Recht zwar ein durchaus eigensinniges, aber kein autonomes System. In diesem Sinne sind Recht und Justiz zweierlei. Während das Recht ein Regelsystem zur – etwas euphemistisch ausgedrückt – Erreichung von „Gerechtigkeit“ ist, dient die Justiz als ein Mittel zum Zweck zur Verwirklichung von Recht.

Und da das Recht nicht aus einem abgeschlossenen Katalog starrer Regelungen in einem quasi punktgenauen Koordinatensystem von Richtig und Falsch besteht, ist es auch stets mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung verbunden. Selbst in sehr traditionalen, archaischen Rechtsordnungen verändern sich vermeintlich ewig gültige Normen deshalb mit der Zeit. Das Recht und die Rechtsverwirklichung durch die Justiz vollziehen sich also nach gewissen Regeln, sind aber gleichzeitig nicht gefeit vor vielfältigen Einflüssen. Doch beeinflussen vielleicht nicht nur die politischen Strömungen in einer Gesellschaft, sondern auch die Politik selbst, als Macht und als Organisation, das Rechtssystem?

Konstellationen, in denen das naheliegend oder sogar evident ist, gibt es natürlich durchaus. Die unmittelbarste Steuerung der Justiz findet zumeist dort statt, wo Exekutivorgane wie die Regierung, die Verwaltung, die Polizei oder ein Geheimdienst gerichtliche Entscheidungen unmittelbar anordnen und die Nichtbefolgung solcher Anordnungen mit Sanktionen bedrohen. Solch eine Steuerung kann im Einzelfall offen erfolgen; in der Regel wird sie jedoch verschleiert. Diese Art der autoritativen Einflussnahme, die man hierzulande nicht kennt, betrifft anderswo vor allem Entscheidungen über die Einleitung von Ermittlungsverfahren, Anklageerhebungen, Verfahrenseinstellungen und Verständigungen im Strafprozess.

„Wenn die Justiz nur eine weitere Form der Macht ist, dann wird sie zur bloßen Camouflage“

Eine andere, durchweg subtilere und längerfristig wirkende Möglichkeit der Steuerung ist die Personalpolitik. Beispielhaft für diese Art der Einflussnahme war zuletzt die Auswahl der Richter des Supreme Court der Vereinigten Staaten sowie die Ernennung von Richtern an anderen US-Bundesgerichten. Dort werden die Kandidatinnen und Kandidaten vom Präsidenten nach politischen Kriterien ausgewählt und vorgeschlagen und dann von der Mehrheit des Repräsentantenhauses bestätigt. Diese eher archaisch anmutende Form der Bestellung von Richterinnen und Richtern führt – kombiniert mit der Tatsache, dass in den USA die Amtsausübung bis zum Tod gilt – dazu, dass die oberste Spitze der Exekutive die rechtspolitische Richtung des Gerichts nach Belieben und für außerordentlich lange Zeiträume beeinflussen kann.

Das Resultat ist für die Legitimation der Gerichte und des Rechtssystems an sich verheerend. Denn wenn die Justiz nur eine weitere Form der Macht ist, wird sie zur bloßen Camouflage. Niemand vertraut einem Gericht, das offenkundig nur als Werkzeug der Exekutivgewalt dient und die Formen des Rechts legitimatorisch missbraucht, um Befehle und Anordnungen der Regierung durchzusetzen. Gravierende, noch direktere Eingriffe stellen disziplinarische Maßnahmen und sogenannte Disziplinargerichte dar, wie sie zuletzt etwa in Ungarn angestrebt, teilweise umgesetzt und vielfach kritisiert wurden. Die Grenzen der Gewaltenteilung wurden hier teilweise derart aufgeweicht, dass eine Kommission des Europarats schwerwiegende Verletzungen des Grundsatzes eines fairen Verfahrens aus Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sah.

So installierte die ungarische Regierung das Amt eines „Präsidenten des Nationalen Richteramts“, also eine Art Oberrichter mit zentralisierten Befugnissen, insbesondere in der Personalpolitik, und praktisch ohne justizielle Kontrolle. Überall, wo solche Zersetzungen der Unabhängigkeit der Justiz und der Gewaltenteilung auftreten und populär werden, sind sie als Zeichen tiefgreifender Krisen der staatlichen Legitimität zu verstehen, die diese zugleich weiter verstärken. Mit populistischen Versprechungen und Forderungen nach Ordnung und Sicherheit versuchen autoritär orientierte Exekutivgewalten, menschen- und bürgerrechtliche Standards und eine unabhängige Justiz zu diskreditieren und stattdessen eine willfährige Exekutivgerichtsbarkeit zu installieren. 

Ist eine derartige politische Einflussnahme auch in Deutschland denkbar? Hier lässt sich zunächst festhalten, dass die Verfahren der Richterauswahl in Bund und Ländern unterschiedlich geregelt sind. In allen Fällen werden die Richterinnen und Richter dabei von der jeweiligen Regierung ernannt, aber nicht allein ausgewählt. Unterschiede gibt es vor allem mit Blick auf die konkreten Vorgehensweisen, also bei Stellenausschreibungen, Anhörungen und der Beteiligung von richterlichen Präsidialräten. So werden Bundesrichter von einem Richterwahlausschuss des Deutschen Bundestags auf der Grundlage von Vorschlägen der Länder sowie der Bundestagsfraktionen gewählt.

Hier hat sich über die Jahrzehnte ein nicht immer durchsichtiges praktisches Verfahren des Proporzes von Vorschlägen parteipolitischer Richtungen eingespielt. In Vorgesprächen zur Richterwahl werden deshalb auch nicht selten Personalpakete zwischen den Stimmführern der Parteien abgestimmt. Die Wahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts ist wiederum gesondert geregelt und von einem gesetzlich nicht vorgesehenen parteipolitischen Vorschlagsrecht dominiert, das in der Praxis zu einem informellen Anspruch der großen Parteien führt, bestimmte Richterstellen zu besetzen. Gemildert werden die Risiken dieser Praxis jedoch durch die Beschränkung der Amtszeit von Verfassungsrichtern auf zwölf Jahre.

Direkter politischer Einfluss wird wiederum bei der Besetzung der Stellen der Präsidenten und Direktoren der Gerichte genommen, deren Auswahl und Ernennung in Bund und Ländern durch die Ministerien erfolgt. Dieser Einfluss beschränkt sich inhaltlich jedoch auf die Funktion der Präsidenten als Verwaltungsspitzen der Gerichte. Und soweit diese eine richterliche Funktion ausüben, gilt der Grundsatz der Unabhängigkeit und strikten Weisungsfreiheit. In ihrem richterlichen Amt nehmen die Präsidenten, Vizepräsidenten und Direktoren keinerlei „vorgesetzte“ Stellung ein, sondern sind allen anderen Richtern gleichgestellt. Bei Entscheidungen über die Personalpolitik der von ihnen geleiteten Gerichte sind sie dementsprechend den Entscheidungen der gerichtlichen Präsidien unterworfen, also Gremien, die von den Richterinnen und Richtern für einen bestimmten Zeitraum gewählt werden und die über die Geschäftsverteilung des jeweiligen Gerichts bestimmen.

„Direkte Versuche, die Justiz politisch zu steuern, sind in Deutschland extrem selten“

Eine politische Einflussnahme auf richterliches Verhalten ist auch im Zusammenhang mit dem Beurteilungswesen möglich. Denn Richter der Eingangsämter unterliegen einer Regelbeurteilung durch den verwaltungsrechtlichen Dienstvorgesetzten, also den Gerichtspräsidenten. Zudem löst jede Bewerbung um ein Beförderungsamt eine sogenannte Anlassbeurteilung aus, die ihrerseits oft Gegenstand von Kritik und Rechtsstreitigkeiten ist. Dies wird dadurch gefördert, dass die Vergütung im richterlichen und staatsanwaltlichen Dienst weiterhin in Analogie zur beamtenrechtlichen Hierarchie in insgesamt zehn Besoldungsstufen erfolgt, was eine formelle und informelle Hierarchisierung der Richterschaft zur Folge hat.

Auf die Praxis der richterlichen Unabhängigkeit wirkt sich das nicht förderlich aus. Dasselbe gilt für die in den Ländern vielfach üblichen „Abordnungen zur Erprobung“, bei denen Richterinnen und Richter, die für eine Beförderungsstelle in Betracht kommen, für einen längeren Zeitraum an einem Obergericht arbeiten und anschließend im Hinblick auf ihre Eignung formell beurteilt werden. Es liegt auf der Hand, dass diese Praxis eine Haltung der Anpassung – gerade auch an inhaltliche Erwartungen – fördert. Wie diese eher indirekte Art der politischen Einflüsse jedoch bereits zeigt, sind direkte Versuche, die Justiz politisch zu steuern, in Deutschland extrem selten.

Dies ist sowohl das Ergebnis der föderalen Strukturen als auch das Verdienst einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit und führt, im Vergleich mit anderen Staaten, zu einem noch immer sehr hohen öffentlichen Vertrauen in die Justiz. Zudem werden versuchte Einflussnahmen, wenn sie bekannt werden, regelmäßig skandalisiert. Dies betrifft zum Beispiel Äußerungen von Politikern zu Ergebnissen von Gerichtsverfahren. Etwa dann, wenn Strafhöhen und Urteile von Strafgerichten kommentiert werden, und gelegentlich auch, wenn öffentlich eine bestimmte Verfolgungspraxis angeregt wird. Solche offenen Forderungen nach „harten Strafen“ und „unnachsichtiger Verfolgung“ tauchen aus der Politik insbesondere bei besonders spektakulären Straftaten immer wieder einmal auf.

In aller Regel werden solche Äußerungen von der Justiz – wie im Fall von Gerhard Schröders alter Kanzlerparole „Wegsperren für immer“ – jedoch in der Regel als (partei)politische und nicht selten populistische Kommunikation verstanden und stoßen meist auf Ablehnung. Zudem stellen die Richterschaft und die Staatsanwaltschaft in der Bundesrepublik, anders als es in anderen Staaten oder zu früheren Zeiten der Fall war, keine homogene soziale Gruppe dar. Das Richteramt wird längst nicht mehr als starre, das Leben prägende Pflichtenstellung angesehen, sondern ist regelmäßig integriert in eine gänzlich „normale“, am sozialen Durchschnitt orientierte soziale Integration als Bürger.

Dementsprechend gehen rechtspolitische Trends, Veränderungen und Diskussionen hierzulande meist weniger auf politische Einflussnahme zurück als vielmehr auf die Tatsache, dass der soziale Raum der Justiz in demselben Maß allgemeinen Einflüssen und Veränderungen der öffentlichen Stimmungen und Anschauungen ausgesetzt ist wie alle anderen gesellschaftlichen Bereiche auch. Diese entfalten ihre Wirkung daher, wenngleich verzögert und durch den Filter des formellen und materiellen Rechts, regelmäßig auch in den Instanzen der Justiz, von den Staatsanwaltschaften und Amtsgerichten vor Ort bis zu den Senaten der Obersten Bundesgerichte. Ein gutes Beispiel dafür ist der seit mindestens zwanzig Jahren zu beobachtende Anstieg des öffentlichen Bedrohtheitsgefühls und der damit verbundene Anstieg der „Strafgeneigtheit“ in der deutschen Gesellschaft.

„Die Justiz ist in demselben Maß Einflüssen der öffentlichen Stimmungen ausgesetzt, wie alle anderen gesellschaftlichen Bereiche auch"

Zu beobachten sind vor diesem Hintergrund vor allem vermehrte Forderungen nach einem präventiven, gefahrverhütenden Wirken der Justiz, die sich mittlerweile ohne Zweifel auch in der Justiz selbst ausgebreitet haben und dort erhebliche Wirkung entfalten: Tendenzen zu mehr Härte, längeren Strafen, stärkerer Betonung des Opferschutzgedankens sowie Befürwortung von Abschreckungstheorien sind das Resultat. Zugleich finden liberale, grundrechtsorientierte und auf Resozialisierung ausgelegte Konzepte, wie sie noch vor einigen Jahrzehnten auch in der Justiz verbreitet waren, derzeit deutlich weniger Zustimmung. Insofern sind es gerade die gravierenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte und nicht primär die Politik, die hierzulande einen erheblichen Einfluss auf die rechtspolitischen Strukturen und Schwerpunktsetzungen haben.

Fühlt sich die Gesellschaft zunehmend bedroht und durch das Wegbrechen von sozialen Strukturen alleingelassen, dann folgt daraus nicht nur die Herausbildung identitärer, also auf abgetrennte Gruppen bezogener, Lebenswelten und Anschauungen, sondern auch eine direkte Wirkung auf die Justiz und die justizielle Praxis. Solche gesellschaftlichen Veränderungen haben stets und zu Recht auch mittelbare Auswirkungen auf die Anschauungen der Richterschaft und die Resonanz der Rechtsprechung. Ein unmittelbarer Einfluss von Medien auf die Ergebnisse von Gerichtsverfahren wird zwar nicht selten in den Raum gestellt, ist aber kaum wahrscheinlich; denn entsprechende Kampagnen führen erfahrungsgemäß eher zu einer Abwehrhaltung seitens der Justiz.

Gleichwohl sind Richterinnen und Richter selbstverständlich auch Teil der Gesellschaft und ihren Stimmungen, Trends, Meinungen und Bewertungen gegenüber offen. Dies ausschließen zu wollen, würde von der Justiz eine lebensferne Position der gesellschaftlichen Isolation verlangen. Doch davon sind wir, auch wenn es von manchen behauptet wird, zum Glück weit entfernt.