Abschied | Afghanistan

Brief an meine tote Schwester

Die Schwester unserer Autorin war Journalistin und wurde auf offener Straße von den Taliban ermordet. Versuch eines Abschieds

Ein Porträt von zwei jungen Frauen. Ihre Oberkörper sind einander zugewandt. Beide sehen den Betrachter freundlich an.

Zwei Schwestern

Meine geliebte Schwester,

es ist nun schon mehrere Monate her, seit du diese Welt verlassen hast, aber die Trauer über deinen Verlust ist noch ganz frisch. Jeden Tag denke ich an dich. Ich wünschte, du könntest heute bei mir sein. Von dir getrennt zu sein und zu wissen, welches Martyrium du erleiden musstest, schmerzt. Ich habe das Gefühl, dass mein Rückgrat gebrochen wurde, als ich dich verlor.

Nachdem die Taliban dich vor dem Haus unserer Familie ermordet haben, habe ich meine Stelle bei dem Medienunternehmen gekündigt, für das auch du gearbeitet hast. Immer wieder erhielten wir dieselbe Drohung: Wer als Frau nicht seine Arbeit niederlegt, wird getötet. Zwei weitere Kolleginnen haben bereits ihr Leben verloren. Auch unser Vater wurde mehrfach mit dem Tod bedroht, auch er verlor seinen Job bei einer Wohltätigkeitsorganisation.

Ohne euer beider Einkommen können unsere Brüder und Schwestern ihre Ausbildung nicht abschließen. Wir alle haben die Hoffnung aufgegeben, dass sich die afghanische Gesellschaft noch zum Besseren entwickeln könnte. Oft kommt mir nun der düstere Gedanke, dass das Leben bedeutungslos geworden ist. Denn der Terror nimmt kein Ende, wir werden weiterhin bedroht.

„Als Journalistin hast du immer wieder betont, dass wir Frauen die Hälfte der Gesellschaft ausmachen und uns dieselben Rechte zustehen wie den Männern“

Immer wieder kamen fremde, in Burkas gekleidete Frauen zu unserem Haus. Die Gründe für ihre Besuche waren vorgeschoben: Erst war es eine Impfaktion, dann ging es um angebliche Hilfsgüter. Sie fotografierten unser Haus und befragten unsere Nachbarn. Wir fühlten uns nicht mehr sicher, wechselten den Wohnort – jetzt leben wir anderswo, man könnte sagen: im Untergrund. Doch die Drohanrufe gehen auch hier weiter.

Meine geliebte Schwester, als Journalistin hast du immer wieder betont, dass wir Frauen die Hälfte der Gesellschaft ausmachen und uns dieselben Rechte zustehen wie den Männern. Aber in der afghanischen Gesellschaft werden uns diese Rechte immer wieder entrissen; mal gibt es dafür kulturelle, mal religiöse Gründe, meist ist es reine Ideologie.

Mittlerweile scheint unser Land nur noch in einer rein männlichen Variante zu existieren. Nur die Männer dürfen sich entwickeln, eine Karriere haben, Entscheidungen treffen. Uns Frauen bleibt kein Recht, nur die Pflicht daheim zu sitzen und die Hausarbeit zu erledigen. Auf eine bessere Zukunft auch nur zu hoffen, in der wir uns weiterbilden und unabhängig sein könnten, gilt als Verbrechen.

Das ist das Gesetz der Taliban, welches sie uns Frauen in zahlreichen Dekreten und Verordnungen auferlegt haben. So bleibt den meisten Aktivistinnen und Journalistinnen, wie auch du eine warst, nur eine schlechte Wahl: das Land verlassen, in den Untergrund gehen oder protestieren und riskieren umgebracht zu werden.

„Wenn du noch am Leben wärst, geliebte Schwester, dann würde es dir sicher sehr schwerfallen, dich in diesem brutalen System zurechtzufinden“


Frauen, die sich weigern, den Hijab zu tragen, werden mit Tieren gleichgesetzt. Für die Taliban und ihre Schergen sind sie wie Freiwild. Selbst wenn diese Maßnahmen irgendwann zurückgenommen werden: Wer gibt uns die Jahre verlorenes Leben und unsere Liebsten zurück?

In Kabul kann man sich mittlerweile zu keiner Zeit mehr sicher fühlen. Am helllichten Tag werden Menschen gezielt getötet. Wenn du noch am Leben wärst, geliebte Schwester, dann würde es dir sicher sehr schwerfallen, dich in diesem brutalen System zurechtzufinden. Du hast immer sehr hart gearbeitet für dieses Land, du hast es geliebt. Doch anstatt über die aktuellen Missstände zu berichten, musstest du den Märtyrerinnentod sterben.

Du warst nicht nur eine Schwester für mich, du warst meine Freundin. Dir konnte ich alles anvertrauen. Mein Herz ist heute schwer von all den Sorgen, die ich gerne mit dir teilen würde. Du fehlst mir.

Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass wir Übriggebliebenen es schaffen in ein sicheres Land auszureisen. Ich hoffe sehr, dass unsere Geschwister eines Tages ihre Ausbildung fortsetzen können. Wir alle vermissen dich, geliebte Schwester. Möge deine Seele in Frieden ruhen.

In Liebe,
deine kleine Schwester

Die Autorin ist der Redaktion bekannt.
Übersetzt aus dem Paschto von Rayana Fakhri