Verachtung für die eigenen Bürger
In unserer Serie „Aus dem Exil“ schreiben Journalisten und Autorinnen, die ihre Heimat verlassen mussten, weil sie dort nicht mehr sicher arbeiten können. Wozu können sie erst jetzt Stellung beziehen, und wie verändert das Leben im Ausland ihre Arbeit?
Um diese Fragen geht es in den Texten, die einmal im Monat sowohl in der Muttersprache der Mitwirkenden als auch in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden. Das Format entstand in Zusammenarbeit mit der Organisation JX Fund, die Medienschaffende nach der Flucht aus Kriegs- und Krisenregionen unterstützt.
Schon als Kind wollte ich Journalistin werden. Es schien mir, dass die Menschen um mich herum ganz anders leben könnten, wenn sich der Staat zumindest ein bisschen um sie kümmern würde. Darauf wollte ich mit Artikeln hinwirken. Jetzt bin ich 24 Jahre alt und redigiere oft Texte darüber, wie der Staat seine Bürger nicht nur vernachlässigt, sondern sie wegen „abweichender Meinungen“ auch noch unterdrückt.
Bei „DOXA“, unserem unabhängigen Magazin, versuchen wir die Geschichten von politischen Gefangenen zu erzählen, damit ihre Stimmen trotz Untersuchungshaft, Gefängnis oder Straflager hörbar bleiben. Weil wir die Dinge beim Namen nennen und über Missstände berichten, die für den Staat unbequem sind, sind wir inzwischen gezwungen, außerhalb Russlands zu arbeiten.
„Schon als Kind schien mir, dass die Menschen um mich herum anders leben könnten, wenn sich der Staat um sie kümmern würde“
Manchmal interviewen wir Menschen, die gerade aus dem Gefängnis entlassen wurden. Manchmal leiten wir unsere Fragen über Anwälte direkt in die Haftanstalt weiter – so war das zum Beispiel bei Anton Schutschkow, der zusammen mit seinem Freund Wladimir Sergejew auf den Moskauer Puschkin-Platz gegangen war, um aus Protest gegen den Ukrainekrieg öffentlich Selbstmord zu begehen.
Mitunter beantworten die politischen Gefangenen unsere Fragen auch in Briefen, die uns ihre Anwälte übermitteln. Teils wenden wir uns direkt an die Sträflinge. In Russland gibt es mehrere Versanddienste, über die man Schreiben in elektronischer Form an Menschen in Untersuchungshaft oder im Gefängnis richten kann.
Wir versuchen den Gefangenen nicht nur Fragen über ihre Haft oder ihren Fall zu stellen oder darüber, wofür sie verurteilt wurden. Wir wollen auch etwas über ihr Leben vor der Haft erfahren, ihre Hoffnungen, Hobbys oder Schwierigkeiten. Wir haben viele Interviews geführt, aber eines der berührendsten war für mich jenes mit dem Lastwagenfahrer Ruslan Sinin: Er hatte auf einen Militärkommissar geschossen, um seinen Bruder davor zu bewahren in den Krieg eingezogen zu werden.
Wir arbeiten auch in anderen Formaten, zum Beispiel berichten wir über den Verlauf von politischen Gerichtsprozessen, übernehmen Anwaltskosten und erklären, wie und wozu man Briefe an die Haftanstalten schreibt. Als Journalisten können wir meist nicht direkt helfen, aber wir glauben, dass die Öffentlichkeit, die wir mit einer ausführlichen Berichterstattung herstellen, der Beitrag ist, den wir leisten können. So versuchen wir sicherzustellen, dass politisch Verfolgte in diesem brutalen System nicht allein gelassen werden.
„In Russland erzeugt die Regierung mithilfe all der Repressalien eine Atmosphäre der Angst“
Meine vielen Kolleginnen und Kollegen und ich vermissen Russland. Wir sind traurig darüber, dass es so schwierig ist, unsere Familien zu sehen (ich habe meinen Vater seit anderthalb Jahren nicht mehr getroffen und weiß nicht, wann es wieder möglich sein wird). Ich bin im letzten Jahr bereits zweimal umgezogen, und jedes Mal muss ich mich von Neuem an die Stadt und die Menschen gewöhnen.
Alles ist anders: die Sprache, das Klima, die Leute, die Wohnung, das Essen. Natürlich kann man sich darauf einstellen, aber wenn es nichts gibt, woran man sich festhalten kann, und man alles von Grund auf neu beginnt, braucht man Kraft, die man nicht immer hat. Trotzdem: Wenn mir jetzt jemand anbieten würde, nach Russland zurückzukehren, ich dafür aber im Gegenzug über die Missstände in Land schweigen müsste, würde ich mich dagegen entscheiden.
In Russland erzeugt die Regierung mithilfe all der Repressalien eine Atmosphäre der Angst. Die Menschen sollen ihre Meinung nicht äußern, sich selbst zensieren, die „Parteilinie“ unterstützen und sich generell wie Zombies verhalten, die von den Behörden an der Leine geführt werden. Die Menschen, über die wir schreiben, sind Bürgerinnen und Bürger, die sich gegen den Staat auflehnen und die dafür schikaniert und oft sogar gefoltert werden.
„Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine müssen Angehörige der Sicherheitskräfte noch weniger Sanktionen für brutales Vorgehen fürchten“
In diesem System konnte es eigentlich kaum noch schlimmer werden, aber seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine müssen Angehörige der Sicherheitskräfte noch weniger Sanktionen für brutales und kriminelles Vorgehen fürchten. Das heißt: mehr Folter und mehr Strafen für jede Art der freien Meinungsäußerung. In einer Untersuchungshaftanstalt, einem Gefängnis oder einem Straflager nimmt der Druck des Systems auf politische Gefangene noch zu.
Zum einen durch die Vollzugsbeamten, zum anderen durch Mitgefangene, die oft mit der Verwaltung zusammenarbeiten. Sie alle treten die Würde derjenigen mit Füßen, die wegen politisch motivierter Aussagen oder Aktionen in die „Umerziehungsanstalten“ eingeliefert werden.
Über das zu sprechen, was in Russland in den schlimmsten Gefängnissen vor sich geht, ist das Mindeste, was ich als Journalistin tun kann, um politischen Gefangenen zu helfen. Je mehr Leidensgeschichten ich höre, desto schwieriger wird es für mich, mit ihnen zu leben. Bei der großen Menge ist es manchmal nicht ganz einfach, sich an alle genau zu erinnern. Und trotzdem scheint mir, dass wir das lernen müssen, wenn wir weiterhin Widerstand leisten und uns gegenseitig unterstützen wollen.
Aus dem Russischen von Alexander Filyuta
Еще в детстве я хотела стать журналисткой. Мне казалось, что окружающие меня люди могли бы жить совсем по-другому, если бы государство хоть немного о них заботилось. Этого я хотела добиться с помощью журналистики. Сейчас мне 24 года и я часто редактирую тексты о том, как государство не только пренебрегает своими гражданами, но и преследует их из-за «инакомыслия».
В нашем независимом журнале «DOXA» мы стараемся рассказывать истории политических заключенных так, чтобы их голоса можно было услышать, несмотря на нахождение в СИЗО, тюрьме или в колонии. Так как мы называем вещи своими именами и сообщаем о неудобных для государства фактах, мы теперь вынуждены работать за пределами России.
«Еще в детстве мне казалось, что окружающие меня люди могли бы жить совсем по-другому, если бы государство хоть о них заботилось»
Иногда мы берем интервью у людей, которые только что вышли из тюрьмы. Иногда мы передаем свои вопросы напрямую в СИЗО через адвокатов – так было, например, с Антоном Жучковым, который вместе со своим другом Владимиром Сергеевым вышел на Пушкинскую площадь в Москве, чтобы публично покончить жизнь самоубийством в знак протеста против войны в Украине, и был заключен в тюрьму.
Иногда политзаключенные отвечают на наши вопросы в письмах, которые присылают нам их адвокаты. Иногда мы связываемся с заключенными напрямую. В России существует несколько почтовых сервисов, с помощью которых можно отправлять письма в электронном виде людям, находящимся под стражей или в тюрьме.
Мы стараемся не просто задавать заключенным вопросы об их содержании под стражей, их уголовном деле или о том, за что их осудили. Мы также хотим знать об их жизни до заключения, об их надеждах, увлечениях или трудностях. Мы провели много интервью, но одним из самых трогательных для меня стало интервью с водителем лесовоза Русланом Зининым: он стрелял в военкома, чтобы спасти брата от мобилизации.
Мы работаем и в других форматах, например, сообщаем о ходе политических судебных дел, покрываем судебные издержки и объясняем, как и зачем писать письма в тюрьмы. Как журналисты, мы обычно не можем помочь напрямую, но мы считаем, что общественный резонанс, который мы создаем благодаря подробным репортажам, – это тот вклад, который мы можем внести. Таким образом, мы пытаемся сделать так, чтобы те, кто подвергается политическим преследованиям, не оставались один на один с этой жестокой системой.
«Российское правительство с помощью репрессивных мер создает в стране атмосферу страха»
Я и мои многочисленные коллеги скучаем по России. Нам грустно, что так сложно увидеться с родными (я не виделась с отцом полтора года и не знаю, когда это снова станет возможным). За последний год я уже дважды переезжала, и каждый раз мне приходится заново привыкать к городу и людям.
Все по-другому: язык, климат, люди, квартира, еда. Конечно, к этому можно приспособиться, но если не за что держаться, и ты начинаешь все с нуля, нужны силы, которые не всегда есть. Тем не менее, если бы кто-то предложил мне вернуться в Россию сейчас, но взамен я должна была бы молчать о том, что происходит в стране, я бы отказалась.
Российское правительство с помощью репрессивных мер создает в стране атмосферу страха. Люди не могут просто выражать свое мнение, они должны подвергать себя самоцензуре, поддерживать «линию партии» и вообще вести себя как зомби, которых власти держат на поводке. Люди, о которых мы пишем, – это граждане, которые восстают против государства и подвергаются за это преследованиям, а зачастую и пыткам.
«С начала войны против Украины силовикам уже не нужно опасаться каких-либо санкций за жестокие действия»
Казалось бы, в такой системе ситуация вряд ли может ухудшиться, но с начала войны против Украины силовикам уже не нужно опасаться каких-либо санкций за жестокие или преступные действия. Это означает больше пыток и больше наказаний за любое свободное выражение мнений. В СИЗО, тюрьме или исправительных учреждениях давление системы на политических заключенных возрастает.
Как со стороны сотрудников правоохранительных органов, так и со стороны других заключенных, которые подчас сотрудничают с администрацией. Все они попирают достоинство тех, кого отправляют в «центры перевоспитания» за политически мотивированные высказывания или действия.
Рассказывать о том, что происходит в худших тюрьмах России, — это самое малое, что я могу сделать как журналистка, чтобы помочь политическим заключенным. Чем историй о страданиях больше я слышу, тем сложнее мне становится жить с ними. Их так много, что иногда бывает нелегко помнить их все. И все же мне кажется, что мы должны научиться делать это, если мы хотим продолжать сопротивляться и поддерживать друг друга.