Menschenrechte | Rumänien

Roma an den schmutzigen Stadtrand verdrängt

Vor Jahren siedelte die rumänische Stadt Cluj-Napoca Hunderte Roma um – neben eine riesige Müllhalde. Die betroffenen Familien wehren sich und erregten internationale Aufmerksamkeit
Frau mit pinkem Schal

Linda Greta Zsiga und ihre Familie wurden nach Pata Rât zwangsumgesiedelt. Viele Menschen leben dort in selbst gebauten Unterkünften ohne Wasser und Strom

Dort, wo sich in der rumänischen Stadt Cluj-Napoca vor 13 Jahren dramatische Szenen abspielten, ist an diesem verregneten Montagmorgen im Juni nichts los: Der Bibliothekspark liegt auf einer Anhöhe zwischen grauen Wohnblöcken im Stadtteil Mărăști.

Auf dem knallbunten, aber kinderleeren Spielplatz knarzt eine Schaukel im Wind. Die blauen Sportgeräte eines Trimm-dich-Pfades stehen verloren neben dem neu angelegten Radweg. Über allem thront das große Kreuz auf dem Dach der Orthodoxen Fakultät. Nichts erinnert daran, dass dieser Ort schmerzhafte Erinnerungen birgt.

Doch kurz vor Weihnachten 2010 fand genau hier die größte Zwangsräumung der jüngeren Clujer Stadtgeschichte statt. Am Standort des heute verlassen wirkenden Parks lebten 76 Roma-Familien, teilweise schon seit mehreren Generationen.

„Zwei Tage vorher sagten sie uns, dass wir unsere Koffer packen sollten, dann kamen die Bulldozer“, erinnert sich Linda Greta Zsiga. Sie wohnte mit ihrer Familie in der Coastei-Straße, die für den Bibliothekspark abgerissen wurde. Die Häuser gehörten zum Bestand der städtischen Sozialwohnungen. Die rund 320 Bewohnerinnen und Bewohner wurden zwangsumgesiedelt.

„Es stank fürchterlich, irgendwo brannte immer ein Müllhaufen, es gab keine Sanitäranlagen, keinen Strom, nur Müll“

Ihr neues Zuhause: ein paar Fertighäuser außerhalb der Stadtgrenze, auf dem Gelände der größten offenen Müllkippe Rumäniens Pata Rât. „Es stank fürchterlich, irgendwo brannte immer ein Müllhaufen, es gab keine richtigen Sanitäranlagen, keinen Strom, nichts als Müll“, beschreibt Zsiga die Zustände.

Die Ereignisse rund um Pata Rât scheinen auf den ersten Blick nicht zum Image zu passen, das sich Cluj-Napoca als weltoffene Kulturstadt aufgebaut hat. Jedes Jahr ziehen die Musikfestivals „UNTOLD“ und „Electric Castle“ sowie das Transsilvanische internationale Filmfestival (tiff) große Besucherströme in die pittoreske siebenbürgische Altstadt.

Doch laut dem Soziologen und Wohnraumaktivisten George Zamfir stellen die prestigeträchtigen Events und die Zwangsräumungen keinen Widerspruch dar. Die Lage auf dem Wohnungsmarkt habe sich in den vergangenen Jahren massiv verschärft. Prekär lebende Menschen in informellen Siedlungen, darunter zahlreiche Roma, störten dabei – und würden als Erste verdrängt.

„Bald wird das Zentrum von Cluj voller Touristen, aber ohne Einwohner sein“, sagt Zamfir. Der Großteil der Stadtbevölkerung heiße Zwangsräumungen von zentral gelegenen Flächen sogar gut, solange sie Roma betreffen, erklärt der Aktivist. Denn nach wie vor sind Vorurteile gegenüber der zweitgrößten rumänischen Minderheit, die je nach Schätzung zwischen drei und zehn Prozent der Bevölkerung ausmacht, weit verbreitet.

Eine Frau sitzt mit ihrem Kleinkind auf dem Schoß auf einem Stuhl im Freien

Maria Stoica will verhindern, dass ihr einjähriger Sohn Matei in so ungesunden Umständen aufwachsen muss wie sie selbst

Bei einer landesweiten Erhebung aus dem Jahr 2020 gaben beinahe siebzig Prozent der Befragten an, dass sie Angehörigen der Roma misstrauen. „Niemand vermisst uns im Stadtzentrum. Wir müssen beim Müll leben, denn viele Menschen denken, dass wir dorthin gehören“, sagt Maria Stoica bitter.

Die 28-jährige Romni hat den größten Teil ihres Lebens in Pata Rât verbracht. Seit sie selbst Mutter geworden ist, sind die Umstände für sie immer schwerer auszuhalten: „Überall ist Müll, Bakterien und verschmutztes Wasser – nicht einmal Tiere sollten hier wohnen. Ich will nicht, dass meine Kinder so aufwachsen müssen wie ich“, betont sie. Zudem macht sie sich große Sorgen über die gesundheitlichen Risiken, die ihr Wohnort birgt. „In meiner Nachbarschaft sterben so viele Menschen jung, viele bekommen Krebs. Kaum jemand ist über 65 Jahre alt“, sagt Stoica.

Im Jahr 2023 leben zwischen 1.700 und 1.800 Menschen in Pata Rât, fast alle davon sind Roma. Dass Menschen nahe der Mülldeponie wohnen, ist allerdings kein neues Phänomen.

Seit Ende der 1970er-Jahre ließen sich einige Roma aus wirtschaftlicher Not dort nieder. Sie sammelten Wertstoffe, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Nur rund elf Prozent der Abfälle werden landesweit recycelt. Ein Großteil landet auf offenen Halden. Die im Jahr 2010 aus der Coastei-Straße vertriebenen Roma hätten allerdings keinen Bezug zur Müllverarbeitung, erzählt die damalige Bewohnerin Linda Zsiga.

„Roma sowie wohnungs- und arbeitslose Menschen werden dort aus den Städten verdrängt, wo sich das öffentliche Leben und der Tourismus abspielen“

Viele Menschen arbeiteten im Stadtzentrum, ihre Kinder gingen dort zur Schule oder in den Kindergarten. Nach der Umsiedlung nach Pata Rât war das kaum mehr möglich. „Es war, als hätte man uns aus der Gesellschaft rausgeworfen“, sagt Zsiga. „In den Modulhäusern lebten wir zu zwölft auf 16 Quadratmetern. Es gab ein Gemeinschaftsbad mit kaltem Wasser, das wir uns mit den Leuten aus den drei benachbarten Modulen teilen mussten“, erinnert sich Zsiga.

Diesen Beschreibungen widerspricht Emil Boc, der damalige Bürgermeister von Cluj-Napoca, in einem öffentlichen Statement: „Die Stadtverwaltung hat 2010 das Richtige getan und arbeitet immer noch daran, die Situation der in Pata Rât lebenden Roma zu verbessern.“ Nach Angaben des Ex-Bürgermeisters waren die Familien aus ungeeigneten Wohnungen im Stadtzentrum in bessere Unterbringungen mit Strom, Wasser und Heizung umgesiedelt worden.

Umweltrassismus“ nennt die Wissenschaftlerin Enikö Vincze das, was sich nicht nur in Cluj-Napoca, sondern in ganz Rumänien immer wieder abspielt: Roma, wohnungs- und arbeitslose Menschen werden bevorzugt aus den Teilen der Städte verdrängt, die für das öffentliche Leben und den Tourismus eine Rolle spielen.

Wird ihnen neuer Wohnraum zugewiesen, dann befindet sich dieser oft an wenig attraktiven und sogar gesundheitsgefährdenden Orten. So wie bei der Müllkippe Pata Rât. „Laut bestehenden Wohnraumgesetzen müssen Wohneinheiten mindestens tausend Meter von giftigen Stoffen entfernt sein“, erzählt sie.

Die von der Stadt aufgebauten Module befänden sich allerdings nur 200 Meter neben einer stillgelegten Deponie für Medizinabfälle, darum sei mit der Zwangsumsiedlung geltendes Gesetz gebrochen worden.

Deshalb hat Vincze zusammen mit Aktivistinnen und Aktivisten aus Pata Rât und einem Netzwerk an Bürgerrechtlern der Aktionsplattform „Desire“ im Jahr 2018 Klage gegen die Verantwortlichen der Räumung eingereicht.

 

Eine bunte Kinderrutsche und ein Klettergerüst auf einer Grünfläche vor Hochhäusern

Der leere Bibliothekspark von Cluj-Napoca: Nichts erinnert daran, dass 76 Familien hier vor wenigen Jahren ihr Zuhause verloren

Im Zuge der Klage wurden die Feinstaubbelastung und die Zusammensetzung des Sickerwassers aus der Mülldeponie gemessen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Luftqualität und die zulässigen Konzentrationen von Schwefelwasserstoff die auch in Rumänien geltenden Grenzwerte der Weltgesundheitsorganisation (WHO) deutlich überschreiten.

Aus Gesundheitsumfragen in den Siedlungen von Pata Rât von 2021 geht hervor, dass zu diesem Zeitpunkt über die Hälfte der Menschen dort  unter Atemnot, Husten, Kopfschmerzen und Schwindel litt – mögliche Folgen der Umweltbelastung durch die Deponie. Auch mit Blick auf diese Ergebnisse reichten die Aktivistinnen und Aktivisten die Klage ein. Doch bis heute lässt das Urteil auf sich warten.

Geht es nach Wohnraumaktivist George Zamfir, dann ist das größte Problem, dass sich keine politische Partei das unpopuläre Wohnungsthema auf die Fahnen schreiben möchte. Erst recht nicht ein Jahr vor den rumänischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die im Dezember 2024 stattfinden sollen.

„Wir befinden uns hier in einer der reichsten Städte Rumäniens. Dennoch gibt es immer weniger bezahlbaren Wohnraum, weil man mit dem Thema keine Wahlen gewinnen kann.“ In den Jahren 2015 bis 2019 wurden in der Stadt zwar 15.587 neue Wohnungen gebaut – doch darunter ist keine einzige Sozialwohnung. Derzeit warten Antragsstellende für Sozialwohnungen im Schnitt bis zu zwanzig Jahre auf ein Apartment.

Während sich auf der städtebaulichen Seite somit wenig tut, gelang es dem aktivistischen Bündnis in Cluj-Napoca, international auf sich aufmerksam zu machen. Amnesty International kritisierte die Zwangsräumungen, das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) vermittelte zwischen Betroffenen und Stadtoberen. Mit finanzieller Unterstützung aus der schwedisch-rumänischen Entwicklungszusammenarbeit konnten bis Juli 2023 Wohnräume für sechzig Familien gekauft werden.

„Ich habe es satt, dass wir Roma immer diskriminiert werden. Wir sind Menschen. Wir haben das Recht auf angemessenen Wohnraum“

„Das war immerhin ein positiver Nebenaspekt der großen Räumung: Die Lebenssituation der Menschen in Pata Rât war nicht länger unsichtbar, sondern machte international Schlagzeilen“, erinnert sich Vincze. Durch Protestaktionen kommen Roma mit Wissenschaftlerinnen und Wohnraumaktivisten mit Studierenden in Kontakt.

Das Festival ­“Khetane“ wurde ins Leben gerufen, um Menschen aus der ganzen Stadt zu Konzerten und Austausch nach Pata Rât zu holen. Der Internetradiosender „Radio Pata Se Pune!“ sendet live aus einem Containerstudio vor Ort und vermittelt Bewohnerinnen und Bewohnern journalistisches Know-how.

Wie viele andere wurde auch Maria Stoica, die in Pata Rât aufgewachsen ist, durch die Jahre des Protests politisiert. „Ich habe es so satt, dass wir Roma immer und überall diskriminiert werden. Wir sind Menschen. Wir haben das Recht auf angemessenen Wohnraum“, sagt sie. Heute unterstützt sie Menschen aus ihrer Nachbarschaft, wenn sie an komplizierten Sozialanträgen scheitern.

So traumatisch die Zwangsräumung im Jahr 2010 für die Betroffenen auch war, so markierte sie doch die Geburtsstunde einer lokalen Wohngerechtigkeitsbewegung, die sich auf antirassistische Solidarität zwischen Menschen verschiedener ethnischer Gruppen und sozialer Schichten stützt.

Aktuell arbeiten die Aktivistinnen und Aktivisten an einem Denkmal, damit das Schicksal der Roma aus Pata Rât im Stadtzentrum sichtbar bleibt; ein Modell gibt es schon. Genau dort, wo vor dreizehn Jahren die Bulldozer mit dem Abriss begannen, soll es stehen, zwischen Trimm-dich-Pfad und Spielplatz: eine maßstabsgetreue Miniatur der ehemaligen Häuser. Damit diejenigen, die ahnungslos durch den Bibliothekspark von Mărăști spazieren, in Zukunft an die Geschichte dieses Ortes erinnert werden.

Dieser Text entsand im Rahmen des Südosteuropa-Recherchestipendiums der Internationalen Journalistenprogramme (IJP)