Ein Staat in Geiselhaft
Will man echte Veränderungen anstoßen, dann müssen Opfer gebracht werden. Zumindest lehren uns das frühere Revolutionen. Bezieht man diese Erkenntnis auf den Sudan, dann ist für mich schnell klar, wem die größten Opfer abverlangt werden sollten: jenen, die unter zwielichtigen Umständen, als von Rechtsstaatlichkeit, Verantwortlichkeit und Gleichheit noch keine Rede war, Privilegien anhäufen konnten.
Jenen, die sich mit den Missständen arrangiert und so getan haben, als würden sie die Gewalt, die die Regierung gegen das Volk verübte, nicht sehen. Hauptsache, sie selbst hatten ihre Schäfchen im Trockenen. Von diesen Privilegierten gab und gibt es viele im Sudan: einflussreiche Mitglieder der Parteien, Intellektuelle, Kapitalanleger, Militärs.
Seit der Unabhängigkeit des Staates hatten Sudanesinnen und Sudanesen unter diesen Eliten zu leiden. Immer wieder haben diese ihre eigenen Interessen über alles gestellt – und die der übrigen Bevölkerung mit Füßen getreten. Mit der Folge, dass der Fortschritt ins Stocken geriet. Und so war der Sudan der 1960er- und 1970er-Jahre tatsächlich fortschrittlicher als der Sudan der Gegenwart.
„Das Militär konnte zahlreiche Investitionsprojekte in allen möglichen Branchen unter seine Kontrolle bringen“
Missmanagement und die Machtgelüste der Militärs, die immer wieder putschten, sobald friedliche und couragierte Volksaufstände einen Demokratisierungsprozess einzuleiten drohten, machten es möglich. In diesem Zusammenhang muss vor allem über die Korruption innerhalb des Militärapparats gesprochen werden.
Während der Herrschaft des Militärs und Diktators Omar al-Baschir, die von 1989 bis 2019 dauerte, begann die Armee den zivilen Eliten Konkurrenz zu machen und auch immer mehr wirtschaftliche Macht zu erlangen.
Das Militär konnte zahlreiche Investitionsprojekte in allen möglichen Branchen unter seine Kontrolle bringen – nicht nur in der Rüstungsindustrie, sondern auch in Bereichen wie Landwirtschaft und Bergbau. Das Schlimmste daran war und ist, dass diese Geschäfte am Staatshaushalt vorbeigeleitet werden und somit jedweder öffentlicher Aufsicht entzogen sind.
Das Militär ist zu einem Staat im Staate geworden, mit einem eigenen Haushalt, auf den das Finanzministerium keinen Einfluss und Zugriff hat. Heute verfügt es über rund achtzig Prozent der ökonomischen Ressourcen des Landes.
2020 warnte der damalige Ministerpräsident der Revolutionsregierung, der studierte Ökonom Abdalla Hamdok, eindringlich vor den Folgen der wirtschaftlichen Aktivitäten des Militärs, das seiner Meinung nach auf eigene Rechnung und ohne jede öffentliche Kontrolle agiere. Er forderte die Armeeführung auf, sich von ihren Unternehmen zu trennen.
Diese sollten stattdessen unter größtmöglicher Transparenz von Zivilpersonen geleitet werden und ihre Bilanzen offenlegen. Genau dies wurde bereits im Zuge der Proteste ab Dezember 2018 gefordert, die zur Absetzung von al-Baschir führten. Denn andernfalls, so die Befürchtung, drohten die demokratischen Bestrebungen im Land im Keim erstickt zu werden.
Natürlich gefiel das den beiden Generälen und Vorsitzenden des 2019 gebildeten Militärrats, Abdel Fattah Burhan und dessen Vize Mohammed Hamdan Daglo (genannt Hemedti), hinter denen einflussreiche Persönlichkeiten des alten Regimes standen, ganz und gar nicht.
Schließlich waren sie auf die eine oder andere Weise Profiteure jener Unternehmensbeteiligungen, vor allem wenn es um den Abbau von Gold und dessen reibungslosen Schmuggel über die Flug- und Schiffshäfen ins Ausland ging.
Nicht von ungefähr sind die Ein- und Ausfuhren der Sicherheitskräfte keinerlei Zollkontrollen unterworfen. Kaum hatte Hamdok dies zur Sprache gebracht, kam es natürlich zu Spannungen zwischen den Mitgliedern der zivilen Übergangsregierung und der Armee und ihren Milizen.
In der Folge blockierten die Militärs jeden Beschluss Hamdoks, der ihren Interessen hätte gefährlich werden können. Diese Spannungen entluden sich schlussendlich im Putsch vom 25. Oktober 2021 durch den Militärrat – damals noch in völligem Einverständnis zwischen Burhan und Hemedti, deren Truppen sich inzwischen erbitterte Kämpfe liefern.
„Immer wieder wurden Protestierende in den Straßen von Khartum niedergemetzelt“
Der Putsch richtete sich gegen die Übergangsregierung und ihre Bemühungen, die korrupten Geschäfte zu unterbinden, in die Führungskräfte aus dem Umfeld von Burhan und Hemedti, aber auch einflussreiche Vertreter der islamistischen Bewegung involviert waren. Sie alle hatten Angst davor, dass öffentliche Institutionen gestärkt und rechtsstaatliche Prinzipien durchgesetzt werden könnten.
Das führte zum Militärputsch. Der Militärrat scheute nicht vor exzessiver Gewalt gegen unbewaffnete Bürgerinnen und Bürger zurück, immer wieder wurden Protestierende in den Straßen von Khartum niedergemetzelt. Doch die Menschen ließen sich nicht unterkriegen und machten mit ihrer Revolution weiter.
„Dieser Krieg ist nichts weiter als ein Konflikt zwischen Räuberbanden“
Nachdem die Militärs im In- und Ausland auf Ablehnung stießen und Druck auf sie ausgeübt wurde, kehrten sie an den Verhandlungstisch zurück und schlossen mit den zivilen Kräften am 5. Dezember 2022 die sogenannte Rahmenvereinbarung. Die paramilitärischen RSF (kurz für „Rapid Support Forces“) von Hemedti sollten in die reguläre Armee eingegliedert werden, was rückblickend eine der Ursachen dafür gewesen sein mag, dass am 15. April 2023 Kämpfe zwischen den rivalisierenden Militärfraktionen losbrachen. Denn Hemedtis Söldnertruppe verfügt über hohe Einnahmen aus Goldexporten in die Vereinigten Arabischen Emirate und nach Russland, unterstützt durch die Wagner-Gruppe.
Aus meiner Sicht ist dieser Krieg nichts weiter als ein Konflikt zwischen Räuberbanden. Es geht weder um die Menschen im Sudan noch um die Demokratie, wie Hemedtis RSF-Miliz uns glauben zu machen versucht. Es ist ein Krieg zwischen Warlords um Geld und Macht. Und die Vertreter des alten Regimes tun alles, um den Krieg weiter anzufachen.
Dabei stellen sie sich auf die Seite der regulären Streitkräfte unter dem De-facto-Staatschef Burhan, in der Erwartung, dass ihnen dies zur Rückkehr an die Macht verhelfen wird. Derweil fällt auf, dass die Mehrheit der Bevölkerung mittlerweile mit keiner Seite mehr sympathisiert, sondern ein Ende des Krieges fordert, ein Ende all des Leides, das beide Seiten angerichtet haben.
„Es ist ein Krieg zwischen Warlords um Geld und Macht“
Die Anführer der islamistischen Bewegung haben jedoch kein Interesse daran, dass dieser Krieg aufhört. Er liefert ihnen ein ideales Chaos, das es ihnen ermöglicht, sich der Rechenschaft und Strafverfolgung zu entziehen. Islamisten verbreiten zudem die unterschwellige Botschaft, die Revolution sei ein Fehler gewesen und die Menschen im Sudan hätten lieber ihre Herrschaft akzeptiert, dann hätten sie jetzt mehr Sicherheit.
Das Baschir-Regime war von der ständigen Angst geplagt, eines Tages gestürzt zu werden. Sich die Loyalität aller Bereiche des Militärs zu sichern, war kein leichtes Unterfangen. Kaum an der Macht, begann das Regime damit, alle hohen Offiziere, die ihm nicht loyal gesinnt waren, in den Ruhestand zu schicken, damit loyale Offiziere in der Hierarchie der Streitkräfte aufsteigen konnten.
So konnte sich das Regime drei Jahrzehnte lang an der Macht halten. Nichts blieb ihm verborgen, etwa wenn sich in den niederen Offiziersrängen Unbehagen über die Tatsache regte, dass die Regierung direkt in den militärischen Apparat eingriff.
„Dadurch, dass sich einige dieser Akteure nun gegenseitig bekämpfen, werden sie am Ende hoffentlich geschwächt sein“
Die lange Herrschaft des Baschir-Regimes war gekennzeichnet durch Unterdrückung und Terror, willkürliche Inhaftierungen und Morde, Berufsverbote, die Plünderung von Ressourcen und nicht enden wollende Kriege. All das hatte gewaltige Flucht- und Migrationsbewegungen zur Folge.
Baschir schwächte unabhängige staatliche Institutionen, verschaffte seiner Nationalen Kongresspartei zahlreiche zusätzliche Einnahmen und förderte Korruption und Vetternwirtschaft in der Führungsriege. Der gesamte Staatsapparat und dessen Ressourcen gerieten unter seine Kontrolle.
„So bleibt die Hoffnung, dass zivilgesellschaftliche Kräfte die Geschicke des Landes irgendwann doch in die Hand nehmen können“
Dieses System wurde durch die Dezemberrevolution von 2018 zumindest ins Wanken gebracht. Indem die Protestierenden unbeirrt weitermachten, obwohl so viele von ihnen im Kugelhagel von Hemedtis und Burhans Schergen starben, ist es ihnen immerhin gelungen, die korrupte Koalition aus Regierung, Islamisten, der Armeeführung und der RSF-Miliz aufzubrechen.
Dadurch, dass sich einige dieser Akteure nun gegenseitig bekämpfen, werden sie am Ende hoffentlich geschwächt sein. So bleibt die Hoffnung, dass zivilgesellschaftliche Kräfte, wie sie sich im Dezember 2018 formierten, die Geschicke des Landes irgendwann doch in die Hand nehmen können.
Aus dem Arabischen von Rafael Sanchez