Unsere Flaggen, unsere Heimatländer und wir
In unserer Serie „Aus dem Exil“ schreiben Journalisten und Autorinnen, die ihre Heimat verlassen mussten, weil sie dort nicht mehr sicher arbeiten können. Wozu können sie erst jetzt Stellung beziehen, und wie verändert das Leben im Ausland ihre Arbeit?
Um diese Fragen geht es in den Texten, die einmal im Monat sowohl in der Muttersprache der Mitwirkenden als auch in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden. Das Format entstand in Zusammenarbeit mit der Organisation JX Fund, die Medienschaffende nach der Flucht aus Kriegs- und Krisenregionen unterstützt.
Es war ein Jahr nach dem Putschversuch von 2016 in der Türkei. Ich hatte gerade „Es geht uns hier gut“, meine Novelle über den Gezi-Aufstand, in Deutschland veröffentlicht und war aus Paris, wo ich mit meinem damaligen Freund lebte, für eine abendliche Lesung im Café der taz nach Berlin gekommen. Die Stadt war immer noch „arm, aber sexy“, und ich sprach frei heraus über mein Land und seine rechte Regierung, beflügelt von der Hoffnung, die dieser Ort in mir weckte.
„Berlin gab mir die Freiheit, zu schreiben und zu publizieren, was ich wollte, ohne ein einziges Wort zu ändern“
Nach meinem Vortrag fragten mich ein paar deutsche Freunde, die sich wegen meiner allzu freimütigen Äußerungen Sorgen zu machen schienen, bei einem Glas Wein nach meinen Zukunftsplänen und ob ich mich nicht vielleicht in Berlin niederlassen wolle, um dort sicherer zu sein. Ich antwortete, dass ich nach meinem Aufenthalt in Paris mit meinem Freund ein Jahr in Stockholm verbringen würde. „Vielleicht danach“, sagte ich so dahin, aber von da an hatte ich Berlin immer im Hinterkopf.
Wer mich kennt, weiß, dass sich meine Pläne schnell ändern können. Ich trennte mich von meinem Freund und zog von Stockholm nach Berlin. Die Stadt war kalt und dunkel, aber sie gab mir die Hoffnung, dass ich so leben könnte, wie ich es wollte: frei, zu tun, zu schreiben und zu sagen, was ich wollte. Berlin ist die Stadt queerer Künstler, von Christopher Isherwood bis David Bowie, die durch ihr Vorbild und ihre Kunst mein bisheriges Leben erhellt hatten.
Nachdem ich mich 2018 in Berlin niedergelassen hatte, verfasste ich zwei Romane, einen über den Völkermord an den Armeniern und den anderen, „Ausländer“, über Intellektuelle, die wie ich die Türkei nach dem Putschversuch von 2016 verlassen hatten. In meinem eigenen Land hätte ich diese Romane vermutlich nicht veröffentlichen können. In beiden spielten queere Protagonisten eine wichtige Rolle, und sie handelten von den Sünden der jüngsten Vergangenheit, die in der Türkei immer noch kaum jemand zu thematisieren wagt.
Berlin gab mir die Freiheit, zu schreiben und zu publizieren, was ich wollte, ohne ein einziges Wort zu ändern. Außerdem wurde ich dort während meiner Arbeit an diesen Romanen unterstützt: Zuerst bekam ich vom PEN Deutschland und danach vom Berliner Senat Stipendien, die es mir ermöglichten, mich eine Zeit lang auf meine schriftstellerische Tätigkeit zu konzentrieren, ohne mir Gedanken darüber zu machen, wie ich Geld verdienen könnte.
„In Deutschland geschahen Dinge, mit denen wir nie gerechnet hatten, die Demonstrationen ähnelten denen, die ich Jahre zuvor in meinem eigenen Land erlebt hatte“
Dann jedoch begann sich alles zu verändern, nicht nur in dieser Stadt, sondern weltweit. Nachdem die Coronapandemie uns alle gezwungen hatte, zu Hause zu bleiben, griff Russland die Ukraine an. Noch bevor die Öffentlichkeit diese Ereignisse richtig begreifen konnten, wurde Deutschland von einer erschreckenden Welle des Faschismus erschüttert.
Die AFD wandelte sich von einer eher randständigen rechtsextremen Partei zur zweitstärksten Partei des Landes. Mit Blick auf diese Entwicklung fühlten sich viele Menschen, darunter auch Künstlerinnen und Künstler, bedroht; die Stadt, die wir kannten, veränderte sich, ohne dass wir etwas dagegen hätten ausrichten können, und es war keine positive Veränderung.
Zu dieser Zeit arbeitete ich, durch Thomas Manns großartige Novelle „Tod in Venedig“ inspiriert, an einer Geschichte, die in der nahen Zukunft in Berlin und Istanbul spielt und in der es um Homophobie und Faschismus in der Türkei und in Deutschland geht. Zugleich begann ich mich an Protesten gegen die überall erstarkende extreme Rechte zu beteiligen.
In Deutschland geschahen Dinge, mit denen wir nie gerechnet hatten, die Demonstrationen ähnelten denen, die ich Jahre zuvor in meinem eigenen Land erlebt hatte. Eltern mit ihren Kindern an der Hand, Menschen, die ich in meiner Zeit in Berlin als meine Familie betrachtet hatte – Queere, Türken und Deutsche, Auswanderer und Einwanderer –, protestierten stundenlang bei eisigem Wetter mit besorgten Mienen, aber fest entschlossen gegen den Rechtsextremismus.
Am Bundestag hingen deutsche Flaggen, aber die Hunderttausende trugen keine Fahnen der Länder, aus denen sie kamen oder in denen sie lebten. Stattdessen LGBTQ-Regenbogenflaggen, goldene Decken zur Rettung von im Mittelmeer ertrinkenden Migranten, rote Revolutionsfahnen oder solche mit Friedenstauben. Denn es gibt keine Nationalflaggen mehr, unter denen wir uns versammeln könnten. Sie haben ihre Bedeutung verloren, auch wegen der Politiker, die unsere Hoffnungen, unsere Träume von Freiheit und unsere Sehnsucht nach einer gerechteren Welt nicht verstehen.
Als ich vor dem Bundestag in Berlin stand, wo sich Hunderttausende von Menschen versammelten, um für echte Demokratie, echte Gleichheit und echten Frieden zu demonstrieren, wurde mir wieder klar, warum ich diese Stadt noch immer liebe: Berlin ist auch weiterhin unsere Stadt, das, was uns hier zusammenbringt, ist das Gefühl, dass wir gemeinsam das politisch durchsetzen können, wofür wir stehen.
Als ich nachts fröstelnd nach Hause kam, sah ich eine SMS, die mir mein Liebhaber geschickt hatte. „Ja“, antwortete ich auf seine Frage. Dieses Wochenende waren wir auf der Demo gegen Faschismus, und nächstes Wochenende gehen wir im Berghain tanzen. Wir tanzen, wir widersetzen uns, wir werden hier leben, gegen alle Widerstände, alle zusammen, in Freiheit.
Aus dem Englischen von Caroline Härdter
It was a year after the attempted coup in Turkey in 2016. I had just published “Es geht uns hier gut”, my novella about the Gezi uprising, in Germany and had come to Berlin from Paris, where I was living with my boyfriend at the time, for an evening reading in the taz café. The city was still “poor but sexy” and I spoke freely about my country and its right-wing government, fuelled by the hope that this place inspired in me.
“Berlin gave me the freedom to write and publish what I wanted without changing a single word”
After my talk, over a glass of wine, a couple of German friends, who seemed worried about my overly outspoken remarks, asked me about my future plans and whether I might want to settle in Berlin to be safer there. I replied that I would spend a year in Stockholm with my boyfriend after my stay in Paris. “Maybe after that,” I said, but from then on I always had Berlin in the back of my mind.
Anyone who knows me knows that my plans can change quickly. I broke up with my boyfriend and moved from Stockholm to Berlin. The city was cold and dark, but it gave me hope that I could live the way I wanted: free to do, write and say what I wanted.
Berlin is the city of queer artists, from Christopher Isherwood to David Bowie, who had lit up my life so far through their example and their art. After settling in Berlin in 2018, I wrote two novels, one about the Armenian genocide and the other, “Foreigners”, about intellectuals who, like me, had left Turkey after the 2016 coup attempt. I probably wouldn't have been able to publish these novels in my own country.
Queer protagonists played an important role in both of them, and they dealt with the sins of the recent past that hardly anyone in Turkey still dares to address. Berlin gave me the freedom to write and publish what I wanted without changing a single word.
I was also supported there while I was working on these novels: First I got grants from PEN Germany and then from the Berlin Senate, which allowed me to concentrate on my writing for a while without worrying about how I could earn money.
“Things happened in Germany that we had never expected, the demonstrations were similar to those I had experienced years before in my own country”
But then everything started to change, not just in this city, but worldwide. After the coronavirus pandemic forced us all to stay at home, Russia attacked Ukraine. Before the public could fully comprehend these events, Germany was rocked by a terrifying wave of fascism. The AFD transformed itself from a rather marginalised far-right party into the second strongest party in the country.
In view of this development, many people, including artists, felt threatened; the city we knew was changing without us being able to do anything about it, and it was not a positive change.
At that time, inspired by Thomas Mann’s great novella “Death in Venice”, I was working on a story set in the near future in Berlin and Istanbul about homophobia and fascism in Turkey and Germany. At the same time, I began to take part in protests against the extreme right, which was gaining strength everywhere.
Things happened in Germany that we had never expected, the demonstrations were similar to those I had experienced years before in my own country. Parents with their children by the hand, people I had considered my family during my time in Berlin - queer people, Turks and Germans, emigrants and immigrants - protested for hours in icy weather with worried expressions, but determined against right-wing extremism.
German flags hung from the Bundestag, but the hundreds of thousands did not carry flags of the countries they came from or lived in. Instead, LGBTQ rainbow flags, golden blankets to save migrants drowning in the Mediterranean, red revolutionary flags or those with doves of peace. Because there are no longer any national flags under which we can rally.
They have lost their meaning, partly because of politicians who do not understand our hopes, our dreams of freedom and our longing for a fairer world.
As I stood in front of the Bundestag in Berlin, where hundreds of thousands of people gathered to demonstrate for real democracy, real equality and real peace, I realised again why I still love this city: Berlin is still our city, the thing that brings us together here is the feeling that together we can achieve politically what we stand for.
When I came home shivering at night, I saw a text message that my lover had sent me. “Yes,” I replied to his question. This weekend we went to the demonstration against fascism, and next weekend we're going dancing in Berghain. We'll dance, we'll resist, we'll live here, against all odds, all together, in freedom.