Diskriminierung | Kanada

„Den ,Indianer‘ im Kind töten“

Über Jahrzehnte wurden in Kanada indigene Kinder zur Umerziehung in christliche Internate geschickt und dort misshandelt. Der Journalist Michel Jean hat über dieses Trauma geschrieben
In einem Klassenraum sitzen Kinder etwa im Alter von 7 Jahren hinter ihren Pulten. Im Hintergrund steht eine Lehrperson

Eine Schulklasse der Coqualeetza Residential School in British Columbia im Jahr 1932

 Interview von Gundula Haage

Michel Jean, in Ihrem Buch „Maikan“ geht es um die Gewalt und Diskriminierung, der indigene Kinder in Kanadas „Indian Residential School System“ ausgesetzt waren. Über hundert Jahre wuchsen indigene Kinder in diesen christlichen Internaten getrennt von ihren Familien auf. Warum haben Sie sich entschieden, darüber zu schreiben?

Die Residential Schools basierten auf einem kanadischen Gesetz, das darauf zielte, „den Indianer im Kind zu töten“. Der Zweck dieser Schulen bestand darin, die Kinder von ihrer eigenen Kultur, Religion und Sprache fernzuhalten. Uns Angehörigen indigener Gemeinschaften war zwar mehr oder weniger bekannt, was für Gräueltaten in diesen Internaten stattfanden, aber die breite Öffentlichkeit wusste es nicht. Ich musste darüber schreiben.

„Aufgrund ihrer Erfahrungen sind einige von ihnen vielleicht nicht in der Lage, liebevolle Eltern zu werden“

Was bedeutete es für Familien, dass Generationen von Kindern von ihrer Gemeinschaft ferngehalten wurden?

Wir leben noch heute mit den Folgen. Die letzte Residential School wurde erst 1996 geschlossen. Das ist noch gar nicht lange her. Wenn man Kinder gewaltsam aus ihrem Zuhause reißt, wenn man ihnen sagt, dass ihre Eltern zurückgeblieben sind, dass ihre Kultur barbarisch ist, dass ihre Sprache nutzlos ist – wozu führt das?

Die Verbindung zu den eigenen Eltern bricht ab. Viele dieser Kinder waren sehr wütend, dass ihre Eltern sie in den Internaten zurückgelassen haben, wo sie oft missbraucht wurden. Die Eltern wiederum schämten sich, dass sie gezwungen waren, ihre Kinder wegzugeben. Dabei hatten sie gar keine Wahl: Die Polizei setzte es einfach durch.

Generationen von Kindern wuchsen in einem feindseligen, gewalttätigen Umfeld auf. Natürlich hatte das schlimme Folgen. Mittlerweile gibt es einige Studien zu diesem Thema: Überall dort, wo es eine Residential School gab, tauchen einige Jahre später vermehrt soziale Probleme wie Alkoholismus, Gewalt und Obdachlosigkeit auf. Heute sind diese traumatisierten Kinder erwachsen und haben selbst Familien.

Aufgrund der Erfahrungen, die sie gemacht haben, sind einige von ihnen vielleicht nicht in der Lage, liebevolle, fürsorgliche Eltern zu werden. Einige Wissenschaftlerinnen und Experten sagen, dass es bis zu sieben Generationen dauern wird, bis das gesamte intergenerationale Trauma beseitigt ist. Das ist wie mit einem Zug, der sich in Bewegung setzt: Ist er einmal in Fahrt, dann dauert es sehr lange, ihn anzuhalten.

Mehrere Kinder knien auf einem Feld und arbeiten in der Erde. Hinter dem Feld erhebt sich ein großes Schulgebäude

Auch Feldarbeiten gehörten für die Schüler an den Residential Schools zum Alltag. So wie hier in Manitoba, circa 1930

Im Jahr 2022 machten die entsetzlichen Funde von anonymen Massengräbern auf dem Gelände ehemaliger Residential Schools Schlagzeilen. Darin befanden sich die sterblichen Überreste Hunderter von Kinder, die in diesen Schulen durch Vernachlässigung, kaum behandelte Krankheiten oder Missbrauch gestorben waren. Warum wurden diese Verbrechen nicht früher aufgedeckt?

Weil die Menschen, die in diesen Internaten waren, nicht darüber sprechen konnten. Für viele war es eine traumatische Erfahrung. Andere schämten sich. Die Schulen wurden zum Tabuthema.

Und auch von staatlicher Seite gab es lange kein wirkliches Interesse. Seit 2013 forschte zwar eine staatlich beauftragte Wahrheits- und Versöhnungskommission zu dem Thema und sollte endgültig Licht ins Dunkel bringen. Das ganze Ausmaß des Grauens blieb jedoch weiterhin unbekannt.

„Alles sieht hübsch aus. Aber es ist gar nicht mehr schön, wenn man erfährt, dass die Kinder auf Knien zur Kapelle kriechen mussten“

Während ich für mein Buch „Maikan“ recherchiert habe, besuchte ich eine der Internatsschulen in Saskatchewan, in der dann später, im Jahr 2021, zahlreiche Leichen gefunden wurden. Ich erinnere mich noch, dass diese Schule sehr malerisch in einem Tal liegt. Auf dem Berg gibt es eine kleine Kapelle, und eine mit Kreuzen gesäumte Straße führt den ganzen Weg hinauf. Alles sieht sehr hübsch aus, man sieht dem Ort nichts Böses an.

Aber es ist ganz und gar nicht mehr schön, wenn man erfährt, dass die Priester der Schule die Kinder gezwungen haben, auf ihren Knien bis hinauf zur Kapelle zu kriechen. Einmal, nach einer Lesung, kam eine 18-jährige Innu zu mir und sagte: „Ich mochte die ehemaligen Internatskinder nie, weil sie saufen und gewalttätig sind. Aber ich wusste auch nicht wirklich, warum sie so sind. Jetzt weiß ich es.“

Wusste die junge Frau nichts über das Residential School System?

Sie wuchs in einem Reservat auf und hatte bestimmt Familienmitglieder, die in diese Schulen gehen mussten, aber trotzdem wusste sie nichts darüber. Daran merkt man, dass das Thema bis heute vielerorts tabu ist. Und leider werden die Residential Schools auch immer noch nicht im Schulunterricht behandelt. Grundsätzlich hat die Geschichte der kanadischen Indigenen keinen Platz im Lehrplan.

Man lernt etwas über Christoph Kolumbus, aber kaum etwas über unsere indigene Kultur. In meiner Gemeinschaft in Mashteuiatsh konnte man mithilfe archäologischer Ausgrabungen zeigen, dass die Menschen dort bereits seit mehr als 5.000 Jahren dauerhaft gelebt haben. Aber das steht nicht in den Geschichtsbüchern, weil die kanadische Geschichte für viele immer noch mit der Kolonialisierung beginnt.

Die systematische Diskriminierung durch die Residential Schools ist eine logische Folge davon. Damals betrachtete man indigene Gemeinschaften als rückständig. Man war der festen Überzeugung, dass die Europäer die Zivilisation einführen würden. Die Weißen haben damals nicht verstanden, dass wir die Welt anders sehen. Und das steckt bis heute in den Köpfen von vielen Kanadierinnen und Kanadiern.

„Für uns Innus ist die Welt zirkulär. Der Mensch ist nicht wichtiger als jedes andere Tier“

Was unterscheidet die „indigene“ Perspektive von dem „europäischen“ Blick auf die Welt?

Der europäische Blick auf die Welt ist linear wie ein Pfeil: Es geht immer aufwärts, immer nach vorne. Zuerst wurde das Rad erfunden, dann das Auto, das Flugzeug, die Rakete.

Für uns Innus ist die Welt aber zirkulär. Natürlich bist du auch hier erst jung und dann alt und dann tot. Die Ältesten sagen jedoch, dass Gott das Altsein geschaffen hat, um die Kinder zu zwingen, sich um ihre Eltern zu kümmern – so, wie ihre Eltern sich um sie gekümmert haben.

Im westlichen Bildungssystem, in dem auch ich zur Schule gegangen bin, geht es außerdem oft um Hierarchien, zum Beispiel um die Pyramide des Lebens. Der Mensch steht über allem anderen. Als Innus sehen wir aber keine Pyramide. Der Mensch ist nicht wichtiger als jedes andere Tier. Wenn ein Jäger ein Tier tötet, denkt er, dass das Tier den Tod akzeptiert hat, damit er leben kann.

Jedes einzelne Wesen hat seinen Platz. Als die Europäer nach Kanada kamen, sagten die Indigenen: „Willkommen, hier ist Platz für uns alle.“ Sie wussten nicht, dass die Weißen ihnen einfach ihr Land wegnehmen würden.

Haben Sie diese Geschichten von Ihren Eltern gelernt?

Nein, leider wurde kulturelles Wissen, als ich jung war, wie bei vielen Innus meiner Generation kaum weitergegeben. Ich gehöre den Mashteuiatsh am Saint-Jean-See in Québec an. Aber ich bin mit meinen Eltern in der Stadt aufgewachsen. Als ich mich für meine Wurzeln zu interessieren begann, wurde meine Mutter wütend und sagte: „Du willst alte Geschichten hören, aber sie erinnern mich an Ereignisse, die nicht schön waren.“

Sie wurde als indigene Frau schlecht behandelt. Es wurde immer mit dem Finger auf sie gezeigt, also wollte sie nicht auffallen. Erst später gelang es mir, meine Großmutter zu überreden, mir mehr über unsere Kultur zu erzählen. 

An einer großen Schultafel stehen mehrere Kinder nebeneinander und schreiben Buchstaben an die Tafel

Lernen unter christlicher Direktive: Eine Szene aus der Residential School Red Deer in Alberta im Jahr 1914

Haben Sie ein Beispiel dafür, was Ihre Großmutter Sie gelehrt hat?

Ich habe sie immer mit Fragen gelöchert. „Erzähl mir eine Geschichte, bring mir die Sprache bei!“ Aber bei den Innu ist es unhöflich, Ältere auszufragen. Man schaut zu und lauscht aufmerksam und lernt daraus. Wer viele Fragen stellt, wird vielleicht später ein guter Journalist, aber so bringt man eine alte Innu-Frau nicht zum Reden. Als ich diese Lektion erst einmal gelernt hatte, wurde es einfacher.

Einmal, zu Weihnachten, hatten wir ein großes Fest. Aber ich war erkältet und hatte keine Stimme. Also nahm meine Oma einige Wurzeln und bereitete damit einen Aufguss zu. Und noch am selben Abend kam meine Stimme zurück. An einem anderen Tag ging ich mit ihr in den Wald, und es gelang mir, keine Fragen zu stellen.

Sie zeigte mir die Wurzel von damals und lehrte mich, wie man sie nutzen kann. Ich erinnere mich bis heute an ihre Worte. Aber wenn man ohne Zugang zu seiner eigenen Kultur aufgewachsen ist und gleichzeitig von den Menschen wie ein Außenseiter behandelt wird, dann bleibt immer ein gewisses Unbehagen zurück, etwas, das fehlt. Wenn du die Sprache deines Volkes nicht sprichst, macht dich das nicht weiß, sondern nur zu einem Innu mit einer weiteren Wunde.

„Ich habe nie einen Innu im Fernsehen, in einem Film oder in der Politik gesehen“

Wie erfahren die Kinder in Mashteuiatsh heute etwas über ihr kulturelles Erbe?

Die Traditionen und das Wissen der Innu spielen keine Rolle in der offiziellen Schulbildung. Die kanadische Regierung sieht es offenbar nicht als wichtig an, entsprechende Initiativen finanziell zu fördern.

Aber in den Gemeinden tut sich eine Menge. Die Cousine meiner Mutter zum Beispiel geht mit Kindern in den Wald und bringt ihnen bei, was sie sammeln sollen, wie man einen Vogel oder ein Kaninchen fängt und wie man es zubereitet.

Ich habe selbst keine Kinder, aber wann immer ich kann, unternehme ich etwas mit den jungen Leuten meiner Gemeinde. Ich unterrichte sie über Literatur oder Poesie, oder was auch immer sie interessiert.

Einer der Gründe, warum ich schreibe, ist mein Interesse an der nächsten Generation und meiner Gemeinde. Denn als ich aufwuchs, habe ich nirgendwo Geschichten über Innus gelesen. Ich habe nie einen Innu im Fernsehen, in einem Film oder in der Politik gesehen.

Mittlerweile sind Sie als Nachrichtensprecher im Fernsehen zu sehen, richtig?

Ja, aber ich bin immer noch der einzige Innu-Nachrichtensprecher, ja sogar der einzige indigene Journalist in ganz Québec. An Weihnachten habe ich einmal meine Sendung mit dem Wort „Kuei“ begonnen. Das bedeutet „Guten Tag“ auf Innu. Mehrere Leute haben sich deswegen bei meinem Chef beschwert. Aber gleichzeitig erhielt ich viele Nachrichten von Innus, die jubelten und feierten, nur weil ein einziges Innu-Wort im Fernsehen gesprochen wurde.

„Ich bin sehr stolz darauf, dass die jüngere Generation besser darin ist, laut und sichtbar zu sein“

Werden indigene Kulturen ihrer Meinung nach anders bewertet, seit wir mehr über Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit sprechen?

Ich beobachte das sehr stark bei der jüngeren Generation. Sie stellen viele Fragen zum Umgang mit der Natur, zum indigenen Wissen und auch zu den Gräueltaten, die verübt wurden. Ich bin mittlerweile über sechzig, darum ist das für mich eine große Quelle der Hoffnung. Lange Zeit waren wir allein. Und was immer wir sagten, ich fühlte mich stets ein wenig wie ein Hummer, der gekocht werden soll.

Der Hummer kocht vor sich hin, der Deckel ist drauf, und niemand kümmert sich darum. Aber heutzutage ist es nicht mehr möglich, den Topf geschlossen zu halten. Ich bin sehr stolz darauf, dass die jüngere Generation besser darin ist, laut und sichtbar zu sein, als meine Generation es war. Sie bekennen sich zu ihrer Herkunft und sind offener stolz auf sie.

Links und rechts stehen Schülerinnen in einer Reihe und haben Stöcke aufgespießten Würstchen in der Hand.

Ein trügerisches Idyll: Schüler und Schülerinnen der Edmonton Residential School in Alberta grillen gemeinsam Würstchen (1930)

Der Roman „Maikan. Der Wind spricht noch davon“ erschien 2022 in deutscher Übersetzung im Wieser Verlag. Neu erschienen auf Deutsch ist außerdem Michel Jeans Roman „Tiohtiá:ke“, der sich dem Schicksal autochthoner Obdachloser in Kanada widmet (ebenfalls im Wieser Verlag).