Indigene Kultur | USA

„Meine Küche ist dekolonisiert“

Das Restaurant Owamni in Minneapolis ist eines der besten in den USA. Sein Besitzer Sean Sherman ist Koch und Aktivist zugleich. Über eine Esskultur mit politischer Sprengkraft

Seah Sherman sitzt auf der Ladefläche seines Trucks, er hat zwei geflochtene Zöpfe und trägt Jeans. Hinter ihm sieht man Büffel grasen.

Sean Sherman ist Koch und Foodaktivist. Seit vielen Jahren widmet er sich dem Ziel, die Küche der Sioux und Lakota First Nations wiederzuentdecken und zu rekonstruieren. In Minneapolis führt er das Restaurant “Owamni”, das ausschließlich indigene Küche serviert

Sean Sherman erscheint zum Zoom-Gespräch mit zurückgebundenen Haaren und im Flanellhemd. Im Hintergrund steht eine in die Jahre gekommene Einbauküche, durch das Fenster scheint die Morgensonne von Minneapolis staubig hinein. Das alles strahlt eine Bodenständigkeit aus, die man so nicht unbedingt erwartet hätte.

Immerhin wurde Shermans Restaurant Owamni letztes Jahr von der renommierten James Beard Foundation zur besten Neueröffnung in den USA gewählt, vergleichbar mit einem Oscar für die Kochkunst. Normalerweise erhalten diesen Preis stilbewusste Sterneköche in gentrifizierten Metropolen wie New York oder Seattle, die für ein Menü mit Weinbegleitung schnell mehrere Hundert Dollar berechnen.

Im Owamni kosten die teuersten Gerichte – ein Bisontartar mit Entenei-Mayonnaise und ein Maissandwich mit Elchfleisch und Süßkartoffeln – gerade einmal 17 Dollar. Vieles auf der Karte ist rein pflanzlich. Was diese Gerichte ausmacht?

„Überall in den USA soll es einmal indigene Restaurants wie das Owamni geben“

Alle Zutaten sind „pre-contact“, soll heißen: Nichts, was europäische Siedler nach Nordamerika eingeführt haben, ist erlaubt. Sean Shermans Küche ist eine indigene, verwurzelt in der Sioux- und Lakota-Kultur, aus der seine Vorfahren stammen. Er ist viel mehr als ein Koch: Sherman ist Archivar, Aktivist und Netzwerker zugleich.

Und er hat eine Vision: Überall in den USA soll es einmal indigene Restaurants wie das Owamni geben. Wie das gelingen kann und welche historischen Wunden dafür zu heilen sind, erklärt Sherman konzentriert und leidenschaftlich. Man spürt, es geht ihm um viel mehr als das aktuelle Menü in seinem Restaurant oder den kulinarischen Erfolg.

Er will etwas bewegen, Menschen dafür begeistern sich mit der Geschichte der Amerikas zu beschäftigen. Sherman weiß, dass er in einer Tradition steht, die Hunderte wenn nicht Tausende Jahre zurückreicht. Das gibt Selbstvertrauen. Eindringlich beginnt er zu erzählen:

„Bevor europäische Siedler nach Nordamerika kamen, gab es hier eine unglaubliche Vielfalt an Kulturen und Lebensweisen. Koloniale und US-amerikanische Regierungen haben diese über Jahrhunderte missachtet und vernichtet. Insbesondere das 19. Jahrhundert war für indigene Kulturen in den USA zerstörerisch.

„Warum wussten wir als indigene Gemeinschaft so wenig über unsere eigene Esskultur?“

Unser Land wurde konfisziert, große Bevölkerungsgruppen deportiert, versklavt oder ermordet. Wo war unsere Hunderte, wenn nicht gar Tausende Jahre alte Tradition geblieben? Was war das für ein Land, in dem unsere Vorfahren lebten, und was war ihre Geschichte? Als Nachfahre der Lakota begannen mich diese Fragen zu verfolgen. Ich war damit natürlich nicht allein.

Wir sind an einem historischen Moment angelangt, an dem es unzählige hochgebildete indigene Menschen gibt, die sich bewusst darüber sind, was ihre Eltern und Großeltern erdulden mussten. Sie wollen die Mehrheitsgesellschaft in den USA damit konfrontieren, dass ein großer Teil ihres Wohlstands darin begründet liegt, dass die Häuser vieler Amerikaner auf einst gewaltsam enteignetem Land stehen.

Dass ihre Vorfahren in den Neuenglandstaaten sich an indigener Sklaverei bereichert haben: In dem Zeitraum, in dem etwa zwölf Millionen Schwarze aus Afrika in die heutige USA deportiert wurden, waren gut fünf Millionen Indigene versklavt worden. Ein Verbrechen, von dem heute viele nichts mehr wissen wollen.

Speziell als Koch fragte ich mich vor diesem Hintergrund: Warum wussten wir als indigene Gemeinschaft so wenig über unsere eigene Esskultur, die ja auch immer viel über eine bestimmte Lebensweise erzählt? Warum gab es nicht längst überall indigene Restaurants?

Ich selbst wuchs in einem Reservat auf, der Pine Ridge Reservation in South Dakota. Am 29. Dezember 1890 fand dort das Massaker von Wounded Knee statt. 300 Männer, Frauen und Kinder der Sioux wurden damals vom siebten US-Kavallerie-Regiment ermordet. Ein historisch extrem aufgeladener Ort.

„Die Geschmäcker und Produkte, die wir auftischten, hatten dort für unzählige Generationen auf dem Speiseplan gestanden“

Mein Großvater und mein Vater brachten mir dort als Kind bei, wilde Beeren zu ernten und zu jagen. Und trotzdem begriff ich als erwachsener Mann, dass ich zwar unzählige europäische Rezepte in ihren jeweiligen Landessprachen kannte, aber so gut wie keine aus der Geschichte meiner Vorfahren. Das wollte, das musste ich ändern.

Um das Jahr 2011 herum begann ich Popup-Dinner zu organisieren. Das war für mich der Versuch, die Essgewohnheiten und damit auch die Lebensweise verlorener indigener Kulturen zu rekonstruieren. Es begann mit dem ,Anishinaabe Frühlings-Tasting‘.

Die Anishinaabe sind eine der größten Volksgruppen in Minnesota. Um ihre Küche nachzuempfinden, wanderten wir mehrere Tage im Norden des Bundesstaates umher und sammelten Zutaten: Wir fanden wilde Pilze, wilden Ingwer, Walleye, einen amerikanischen Barsch, und Farnspitzen.

Wir wollten ein sehr einfaches Menü zusammenstellen, das einen flüchtigen Moment der Jahreszeit in einer sehr spezifischen Region zum Ausdruck brachte und den Kulturen, die dort existierten, Respekt erwies. Die Geschmäcker und Produkte, die wir auftischten, hatten dort für unzählige Generationen auf dem Speiseplan gestanden. Doch das Wissen um dieses Erbe musste zunächst mühsam wiederentdeckt werden.

„Ein Gericht, das unsere Philosophie in Reinform widerspiegelt, ist wilder Reis, der am Ufer der Großen Seen wächst und per Hand geerntet wird“

So entstand allmählich eine Küche, die ich heute als ,dekolonisiert‘ beschreiben würde und die auf alles verzichtet, was europäische Siedler nach Amerika importiert haben: Schwein, Rind, Milchprodukte, Salz und Pfeffer, Zucker oder Weizenmehl. All diese Zutaten ersetze ich mittlerweile durch einheimische Tiere und Pflanzen wie Bison, wilde Beeren, Ente, Insekten, Fische aus den Great Lakes oder Maistortillas.

Ein Gericht, das unsere Philosophie in Reinform widerspiegelt, ist wilder Reis, der am Ufer der Großen Seen wächst und per Hand vom Kanu aus geerntet wird. Zu diesem ,Manoomin‘ geben wir etwa getrocknete Johannisbeeren.

Ein einfaches und gesundes Essen, das wie alle unsere Kreationen frei von kolonialen Produkten wie Gluten, Molkereiprodukten, Zucker, Soja oder Schweinefleisch ist. Viele Unverträglichkeiten und Risiken, die moderne Ernährungsratgeber erst mit der Zeit entdeckt haben, waren in indigenen Gemeinschaften längst bekannt.

Milchprodukte wurden dort nur von Kindern gegessen, bis sie maximal zehn Jahre alt waren. Danach verlieren die meisten Menschen die Enzyme, die für den Abbau von Milchprodukten essenziell sind. Tatsächlich sind bis auf ein paar Nordeuropäer alle Menschen tendenziell laktoseintolerant.

Die Popup-Dinner, und später meine Arbeit in unserem Restaurant Owamni, brachten mich langsam meiner eigenen Geschichte näher und waren gleichzeitig politische Akte. Große Teile der Kultur der Sioux, der Lakota und anderer indigener Stämme existierten nicht mehr.

„Viele der Nahrungsmittel, die heute in Europa zur Esskultur gehören, kamen aus den Amerikas“

Doch man kann sie rekonstruieren wie ein Puzzle, kann herausfinden, was für Pflanzen an einem gegebenen Ort wuchsen, welche Tiere dort lebten, welche Stämme in einer bestimmten Region siedelten, in welchen Sprachen sie sich miteinander unterhielten und an welche Götter sie glaubten. In den USA war es bis in das Jahr 1978 verboten, indigene rituelle Praktiken zu zelebrieren.

Was völlig verrückt ist in einem Land, das seit seiner Gründung im Jahr 1776 die Freiheit der Religion vor sich herträgt wie einen Fetisch. Meine Arbeit ist nur einer von vielen Ansätzen, sich diesem Thema in seiner ganzen Komplexität und Tiefe anzunähern.

Um die Tragweite des Epochenbruchs zu verstehen, den die Kolonisierung der ,Neuen Welt‘ bedeutete, ist für Europäer noch dieses Gedankenexperiment spannend: Viele der Nahrungsmittel, die heute in Europa zur Esskultur gehören, kamen aus den Amerikas.

Wir haben vor Kurzem ein Dinner in Italien nahe Turin organisiert, bei dem wir vegane Arancini aus wildem Reis, Polenta mit Tomaten und Chili sowie Pannacotta aus Maismilch mit Dessertsoße aus mexikanischer Schokolade serviert haben. Alles Produkte, die in Europa vor der Eroberung des amerikanischen Kontinents völlig unbekannt waren.

Es ist einerseits wichtig sich zu vergegenwärtigen, was es bedeuten würde, auf diese Lebensmittel verzichten zu müssen – aber eben auch zu reflektieren, welchen Preis wir Indigene für die europäische Kolonisierung bezahlen mussten: den der vollständigen Ausbeutung und beinahe gänzlichen Zerstörung unserer Kultur und Lebensgrundlage. Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal essen gehen.“


Text und Protokoll von Ruben Donsbach