Literatur | Nigeria

Afrika als Konstrukt und Kontinent

In seinem Entwicklungsroman „Andy Africa“ zeigt Stephen Buoro, wie Popkultur aus dem Westen das postkoloniale Trauma verstärkt. Ein Gespräch
Ein junger Mann steht vor einem abstrakten Hintergrund mit verschränkten Armen. Er trägt eine dunkle Jeans, Gürtel, klassische Sneaker und einen klassischen Pullover und schaut seitlich aus dem Bild heraus, leise lächelnd.

Interview von Miriam Emefa Dzah

Herr Buoro, Ihr Protagonist, der 15-jährige Andrew, lebt in Kontagora, im Norden Nigerias, zusammen mit seiner gläubigen Mutter. Er schwärmt für Blondinen und Kafka, schreibt Gedichte und fantasiert von Black Power. Auf einer Schulversammlung fragt er provokativ: „Afrika hat uns als Konstrukt und als Kontinent im Stich gelassen (...) Warum sollen wir dann an es glauben?“ Was antworten Sie ihm?

Ich bin nicht mit allem einverstanden, was Andy sagt. Aber er hat nicht ganz Unrecht. Vor langer Zeit kam ein Weißer auf einem Schiff vorbei und verkündete: „Ich werde diesen Ort ,Afrika‘ nennen – und ihr seid Afrikaner.“ Dieses Afrika hat ein unheimliches Potenzial. Aber immer wieder werden wir von ihm auch bitter enttäuscht. Immer wieder versinkt unser Kontinent in Chaos und Gewalt.

Ihr Buch beginnt mit der Anrede: „Dear White People“. Sagt das etwas darüber aus, wen Andy ansprechen will?

Die Anrede zeigt Andys eurozentrische Sichtweise. Außerdem kommt er, wie ich selbst, aus einem katholischen Umfeld. Einer der zentralen Aspekte des Katholizismus sind die Beichte und das Sakrament der Versöhnung. Durch das Beichten kann man der Wahrheit näherkommen, sich verletzlich zeigen. Diese ersten Worte signalisieren den Beginn von Andys Reise, an deren Ende er zu einer Art von Afrozentrismus finden wird.

Afrika hat uns als Konstrukt und als Kontinent im Stich gelassen

Woher kommt sein ursprünglicher Eurozentrismus?

Das ist ein trauriger Aspekt unserer postkolonialen Erfahrung. Wir haben begonnen, die Kolonialherren zu vergöttern. Eine Lebensrealität, die durch die zunehmende Flut westlicher Kultur nach Afrika noch verstärkt wird. Andy hat erotische Träume von einer „Prinzessin Diana, die noch nie um Mitternacht vor Hunger aufgewacht ist. Eine(r) Taylor Swift, die noch nie einen Stromausfall erlebt hat“. Diese Fixierung steht symbolhaft dafür, dass unsere Freiheit in vielerlei Hinsicht eine Illusion ist. Wir erleben alltäglich die Diktatur, die Plutokratie und die Kleptokratie, die aus dem Kolonialismus entstanden sind. Dieses hat in vielen Afrikanerinnen und Afrikanern den Keim des Eurozentrismus gesät.

Leidet darunter auch Andys Verhältnis zu seiner traditionsbewussten Mutter?

In vielerlei Hinsicht ist das die tragischste Dynamik des Romans. Einerseits liebt Andy seine Mutter, andererseits empfindet er große Scham für sie. Er schämt sich für ihren Geruch, ihre Schwärze, ihr Englisch. Für mich hat Andy letztlich ein gespaltenes Ich: ein afrikanisches und dieses westliche, an das er sich klammert.

Ist diese Zweiteilung des Selbst eine Erfahrung, die zu Afrika gehört?

Sicher. Als Kind hatten wir ein afrikanisches Ich, wenn wir mit unseren Eltern in unserer Muttersprache redeten. Unter uns Freunden lebten wir unsere Besessenheit für die westliche Kultur aus. Diese Fixierung wurde uns regelrecht eingetrichtert. In der Kirche wurde uns etwa gesagt, wir sollten die lokale Tradition ablehnen und den weißen Jesus annehmen.

„Als Kind hatten wir ein afrikanisches Ich, wenn wir mit unseren Eltern redeten. Mit Freunden dagegen lebten wir unsere Besessenheit für die westliche Kultur aus“

Kolonialismus und Eurozentrismus haben geprägt, wie wir die Welt wahrnehmen. Einer der wichtigsten Punkte in meinem Roman ist die Frage, wie diese beiden Ichs zueinander stehen.

Andy und seine Freunde hören Afrobeats, also afrikanische Popmusik. Hilft diese dabei, die verschiedenen Welten zu versöhnen?

Es ist interessant, dass Millionen Menschen weltweit den Musiker Burna Boy kennen und afrikanische Musik zum neuen Pop geworden ist. Afrobeats ist eine Musik des Synkretismus, das bedeutet, sie verschmilzt afrikanische Rhythmen und künstlerische Ausdrucksweisen mit denen des Westens. Diese neuen Synthesen bieten tatsäschlich die Möglichkeit, die Turbulenzen des postkolonialen Zeitalters zu bewältigen. Dass sich die Musik weltweit verbreitet hat, ist ironischerweise der Globalisierung zu verdanken.

Sie selbst leben in England, einem Sehnsuchtsort für viele Afrikanerinnen und Afrikaner. Spüren Sie eine Spannung zwischen diesen Hoffnungen und Träumen und Ihren eigenen Erfahrungen?

Ich verstehe die Sehnsüchte und fühle mich zu einem gewissen Grad schuldig. Sollten wir nicht alle zu Hause bleiben und unser Land aufbauen? Aber Nigeria ist eben auch dysfunktional. Durch meine Distanz konnte ich viel klarer sehen, fühlen und denken. Das hat mir beim Schreiben des Romans sehr geholfen.