Hierarchie im Hintergrund
Was hat das Kastensystem mit der modernen Gesellschaft zu tun? Erstaunlich viel, findet die Journalistin Isabel Wilkerson
Im Westen haben sich viele Gesellschaften dem Kampf gegen die Diskriminierung verschrieben – bei aller „Wokeness“ ein schwieriges Unterfangen. Denn der „Rassismus, den mensch uns mit dem Schnuller eingetrichtert hat, hört nicht einfach auf zu wirken, auch wenn wir uns gegen ihn entscheiden“, so formuliert es Kim de l’Horizon in seinem preisgekrönten Roman „Blutbuch“.
In diese Wunde legt die afroamerikanische Journalistin Isabel Wilkerson mit ihrem Sachbuch „Kaste“ den Finger. Das eigentliche Problem ist nicht der (sichtbare) Rassismus, sondern das unsichtbare Kastensystem, das darunterliegt, so Wilkersons These. Die indische Kastengesellschaft und das Deutschland der NS-Zeit dienen der Autorin als Folien, mit denen sie den Rassismus in den USA analysiert.
Bereits 1946 bemerkte der Dalit-Aktivist B. R. Ambedkar in einem Brief an den afroamerikanischen Autor und Bürgerrechtler W. E. B. Du Bois, dass die Situation der indischen „untouchables“ jener der „American negroes“ ähnle. Der Gedanke ist also nicht ganz neu.
Für Isabel Wilkerson, die 1994 als erste Afroamerikanerin mit dem Pulitzer-Preis für Journalismus ausgezeichnet wurde, ist dieses umfassend recherchierte Buch auch ein persönliches Anliegen. Sie berichtet von ihren eigenen Erfahrungen mit dem Kastensystem. So gibt es Gesprächspartner, die nicht glauben wollen, dass es sich bei ihr, einer Schwarzen, um eine Reporterin der „New York Times“ handelt.
„Wie die unterste Basis, auf der ein Gebäude steht, brauche jede Gesellschaft eine Klasse von Menschen, die die schmutzigsten und niedrigsten Arbeiten übernehmen, ob sie wollten oder nicht.“
Die Kastengesellschaft der USA nahm ihren Anfang 1619 mit der Ankunft der ersten Sklavinnen und Sklaven in Virginia. Seither werden „wir alle in ein stummes, jahrhundertealtes Kriegsspiel hineingeboren und in Teams eingeteilt, für die wir uns nicht entschieden haben“.
Im Fokus des Buches stehen die USA, und hier unterscheidet Wilkerson drei Kasten: die dominierende der Weißen, die mittlere der Asiaten und Lateinamerikaner und die unterste der ehemaligen Sklaven.
Kastensysteme profitieren von der Ausbeutung der untersten Kaste, das gilt für Indien wie für die USA, wo Sklavenhalter die Zwangsarbeit im 19. Jahrhundert mit der „Schlammschwellen-Theorie“ („mudsill theory“) rechtfertigten: Wie die unterste Basis, auf der ein Gebäude steht, brauche jede Gesellschaft eine Klasse von Menschen, die die schmutzigsten und niedrigsten Arbeiten übernehmen, ob sie wollten oder nicht.
Wer allerdings derartige Tätigkeiten verrichtet, gilt gemäß einem fatalen Zirkelschluss selbst als unsauber: „Ihre degradierte Stellung rechtfertigte die Degradierung“, heißt es in dem Buch pointiert.
„Das grausamste Merkmal des Systems besteht in der Entmenschlichung der untersten Kaste.“
Das Kastensystem beruht nach Wilkerson auf acht Säulen. Die oberste ist die der Vererbung, daraus ergibt sich die zweite Säule, das Verbots von Mischehen: In allen drei Gesellschaften, die Wilkerson untersucht, jene der USA, Indiens und NS-Deutschlands, stehen drakonische Höchststrafen auf das, was bei den Nazis „Rassenschande“ hieß.
Zum Kastensystem gehören absurde Reinheitsvorstellungen. In Indien werden bisweilen die Prüfungen von Dalit-Schülern nicht korrigiert, weil die Lehrer als Angehörige einer höheren Kaste das Papier, auf dem die Tests geschrieben werden, nicht berühren dürfen.
Das grausamste Merkmal des Systems besteht in der Entmenschlichung der untersten Kaste. Bis zur Aufhebung der Rassentrennung durften Schwarze in den USA nicht rauchen und fluchen und keinen Gehstock benutzen. Gegenüber den Angehörigen der untersten Kaste ist selbst extreme Gewalt erlaubt.
Zu den schwer zu ertragenden Schilderungen im Buch gehören jene der Lynchmorde, die in den Südstaaten bis Mitte des 20. Jahrhunderts an der Tagesordnung waren. Die Opfer waren häufig Teenager, denen man etwa vorwarf, sie hätten einer weißen Frau auf ungehörige Weise nachgeschaut.
„Die Kaste ist heimtückisch und deshalb so mächtig, weil sie nicht aus Hass besteht und es nicht persönlich meint.“
Diese Gewalt gegen Schwarze dauert, so Wilkerson, bis heute an; in der Tötung junger schwarzer Männer durch die Polizei, die meist straflos bleibt, sieht die Autorin eine moderne Form der Lynchjustiz. Die Hierarchie des Kastensystems sei „einprogrammiert“.
„Die Kaste ist heimtückisch und deshalb so mächtig, weil sie nicht aus Hass besteht und es nicht persönlich meint.“ Die Regeln wirken im Unbewussten, so gebe es ein „inneres“ Wissen über eine gesellschaftliche Hierarchie.
Auch heute verbietet es das ungeschriebene Gesetz der Kaste Schwarzen, sich extravagante Häuser zu kaufen. Barack Obama war bereits Senator, als er auf einer Party für einen Kellner gehalten wurde. Wenn man einer Hierarchie entgehen kann, handelt es sich nicht um Kaste, sondern um Klasse, so Wilkerson.
Die weiße Unterschicht wird nur durch ihre Hautfarbe davor bewahrt, aus der dominierenden Kaste auszuscheiden, daher reagiert sie alarmiert, wenn das Weißsein an Wert verliert. Wenn Angehörige der untersten Kaste erfolgreich sind, bedeutet dies die größte Gefahr für das System.
Wie stark die Widerstände gegen dessen Abschaffung sind, zeigte sich während der Präsidentschaft Obamas. In seiner ersten Amtszeit häuften sich antischwarze Stereotype, der Wahlsieg Donald Trumps 2016 gilt als Rache der weißen Wählerschaft.
„Mit der Kaste verhalte es sich wie mit einer unheilbaren Krankheit: Sie komme zurück, „wenn das Immunsystem des politischen Körpers geschwächt“ sei.“
Trump habe jedoch nur an die Oberfläche gespült, was sich schon lange angekündigt hatte. Dass die weiße Bevölkerung in den USA Berechnungen zufolge ab 2042 nicht mehr in der Mehrheit sein wird, bedeute für die USA eine Identitätskrise.
Zum rassistischen Backlash gehören die aktuellen Verschärfungen des Wahlrechts in einigen Bundesstaaten: Sie sollen den Weißen auch dann eine Mehrheit verschaffen, wenn sie eine Minderheit bilden.
Mit der Kaste verhalte es sich wie mit einer unheilbaren Krankheit: Sie komme zurück, „wenn das Immunsystem des politischen Körpers geschwächt“ sei. Isabel Wilkerson sieht im Kastensystem die Ursache für die Rückständigkeit der USA: Sei es die Inhaftierungsrate, sei es die Zahl der Toten durch Schusswaffen oder die Mütter- und Säuglingssterblichkeit – überall schneiden die USA deutlich schlechter ab als die anderen hoch entwickelten Länder der westlichen Welt.
Die Autorin betont, dass der Erfolg egalitärer Gesellschaften auf Empathie beruht: „Die Menschen zeigen ein größeres Gefühl der gemeinsamen Verantwortung, wenn sie ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger als ihresgleichen ansehen.“ Die künstliche Hierarchie des Kastensystems lasse sich nicht durch Gesetze verändern, sondern nur durch einen Bewusstseinswandel.
Isabel Wilkersons Buch wurde in den USA nach seinem Erscheinen im Jahr 2020 als „instant American classic“ gefeiert und führte wochenlang die Bestsellerlisten an. Ein Hoffnungsschimmer?
„Kaste. Die Ursprünge unseres Unbehagens.“ Von Isabel Wilkerson. Kjona Verlag, München, 2023.