„In Amerika ist der Arme selbst schuld“
In seinem Debütroman erkundet Jakob Guanzon die Realität der „Working Poor“ in den USA. Ein Interview über Väter und Söhne, Geldnöte und das gefährliche Erbe des American Dream
Herr Guanzon, wissen Sie, wie viel Geld Sie gerade dabeihaben?
Ja, das weiß ich. Wenn du schon als Kind immer wissen musstest, wie viel Geld du zur Verfügung hast, dann behältst du das bei. Auch wenn es mir inzwischen finanziell viel besser geht, ist das also auch heute noch so.
In Ihrem Roman „Überfluss“ ist jedes Kapitel mit dem Dollarbetrag überschrieben, den der Protagonist gerade in der Tasche hat. Warum?
Der Gedanke kam mir in einem Supermarkt in New Yorks vornehmer Upper West Side. Ich stand in der Schlange an der Kasse, es ging nicht voran und die Wartenden wurden sehr ungeduldig und unwirsch. Die Frau, die ganz vorne in der Reihe war und ihr Brot bezahlen wollte, war offensichtlich arm und schob dem Kassierer genau wie in der Eröffnungsszene meines Buches jede Münze einzeln hin. Dass einer Person, die in einer sehr schwachen Position ist, so viel Feindseligkeit und Unmut entgegenschlägt, nur weil sie das Einkaufsvergnügen der anderen ein bisschen beeinträchtigt, ging mir nicht aus dem Kopf. In den USA ist das Wohlstandsgefälle sehr deutlich sichtbar, aber es wird meistens gleichgültig hingenommen oder ignoriert. Deshalb wählte ich Geldbeträge als eine Möglichkeit, die Geschichte zu strukturieren.
Henry, der Protagonist Ihres Romans, lebt mit seinem achtjährigen Sohn in einem Pick-up- Truck und muss zusehen, wie er jeden Tag über die Runden kommt. Spiegeln sich darin Ihre eigenen Erfahrungen?
Ich war zum Glück nie obdachlos. Aber ich stamme aus einer Einwandererfamilie, in der das Geld immer knapp war. Im Winter saßen wir manchmal in dicken Mänteln in der Wohnung. Ich wusste bereits als Kind, dass schon die bloße Existenzsicherung eine Menge Geld kostet. Später studierte ich Soziologie und erkannte, dass das ein weltweites Phänomen ist, dem ich in diesem Roman auf den Grund gehen wollte.
„Für Einwanderer ist es schwer, Geld zu sparen und zu vererben, weil sie fast besitzlos ins Land kommen“
Warum wählten Sie einen Vater und seinen Sohn als Hauptfiguren?
Zum einen wollte ich das Verhältnis zu meinem eigenen Vater ausloten, aber vor allem ergab sich das durch die Story. Für viele US- Amerikaner ist der Arme an seiner Armut selbst schuld. Das Maß aller Dinge ist die Verantwortung des Einzelnen. Mit dieser Einstellung werden vermutlich sehr viele Leserinnen und Leser in Amerika an das Buch herangehen, selbst wenn sie politisch in der Mitte oder etwas links der Mitte stehen. Aber einem Kind kann man keine Schuld geben.
Henrys Eltern waren Einwanderer, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben. Trotzdem hinterlassen sie ihm nichts als Schulden. Wiederholt Henry das Leben seines Vaters?
Absolut. Für Einwanderer ist es schwer, Geld zu sparen und an die nächste Generation zu vererben, weil sie besitzlos oder fast besitzlos ins Land kommen und weil die Lebenshaltungskosten so hoch sind. In vielen Bundesstaaten bleiben die Schulden eines Verstorbenen außerdem an den nächsten Angehörigen hängen.
Man trauert, hat gerade seine Eltern verloren und plötzlich schuldet man der Bank einen vierstelligen Dollarbetrag. Zur emotionalen Tragödie kommt die finanzielle also noch dazu. Häufig schlägt dabei die medizinische Versorgung schwer zu Buche. Kranksein ist unverschämt kostspielig. Die Rechnungen stottert man ein Leben lang ab.
Im Verhältnis zwischen Henry und seinem Vater gibt es noch andere Schwierigkeiten...
Mein Vater kam genau wie Henrys Vater von den Philippinen. Und viele Philippiner sind als Väter ausgesprochen streng, fordernd und gefühlskalt. Der Vater erteilt Befehle, der Sohn gehorcht. Das gilt besonders für den Erstgeborenen.
Als Kind verübelte ich es meinem Vater, dass er anders war als die US-amerikanischen Dads, die für ihre Söhne wie Kumpels waren. Aber als ich älter wurde, begriff ich, dass er nur diese eine Möglichkeit zu lieben kannte. Das war seine Art, mir etwas über die Welt zu vermitteln und mich zu beschützen. Heute haben wir ein sehr intaktes Verhältnis.
Henry hat offenbar kein Ventil für seine Gefühle und versucht andauernd, seine prekäre Lebenssituation geheim zu halten. Welche Rolle spielt das Schamgefühl?
Scham ist für Henry ein ganz wichtiger Antrieb. Neben einem Schuss philippinischem Machotum spielt auch die Überzeugung eine Rolle, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist. Um Hilfe zu bitten, ist selbst innerhalb der eigenen Familie sehr schwer – besonders für einen jungen Mann in den Staaten. Die Energie des Buches speist sich zu einem großen Teil aus diesem brodelnden Schamgefühl.
„Das Narrativ lautet: In den USA ist jeder ein Millionär in der Warteschlange“
Schlüsselszenen des Romans spielen bei McDonald’s und Walmart. Warum haben Sie diese Schauplätze gewählt?
Für mich sind diese Orte so etwas wie die Kathedralen der Nation. Wenn du in Amerika das Gefühl haben willst, an etwas teilzuhaben, das größer ist als du selbst, dann musst du zu Walmart gehen. Dort bekommst du große Räume und intensive Licht- und Farbreize geboten. Das kann sehr aufregend sein – auch wenn Walmart nur Schrott verkauft.
Wir haben in den USA keine öffentlichen Räume. Alles ist privatisiert. Sogar die Parks schließen viel zu früh. In amerikanischen Kleinstädten kannst du nur zu deinen Freunden nach Hause gehen oder eben zu McDonald’s. Henrys ganzes Lebensumfeld hat etwas Unerbittliches.
Über Henrys Jugendjahre können die Leserinnen und Leser sich ein eigenes Urteil bilden. Ich will seinen Drogenkonsum oder sein Verhalten nicht moralisch bewerten. Ich wollte einfach nur darstellen, wie wir in diesem Teil der USA leben – etwa in Minnesota und auch in anderen abgehängten Regionen, die keine Perspektive haben.
Statt Sportangeboten haben wir Drogen. Für Urlaubsreisen fehlt das Geld – also schluckt man eine Pille, um ein bisschen zu entspannen. In Zeiten der Opioid-Krise sind arme Leute für Pharmafirmen deswegen eine leichte Beute und werden von ihnen gezielt abhängig gemacht.
Wenn du dich anstrengst, kannst du es zu etwas bringen – das ist ein US-amerikanischer Gründungsmythos. In Ihrem Buch steht die Hoffnung auf sehr wackeligen Beinen. Existiert der American Dream noch?
Ich glaube nicht, dass er für viele Menschen überhaupt mehr als ein Traum war – außer für weiße Männer in den 1950er-Jahren. Aber wir zelebrieren sehr gerne die seltenen Fälle, in denen jemand Erfolg hat. Die US-amerikanische Psyche ist groß im Verleugnen und Verdrängen.
Von Kindesbeinen an wird uns eingetrichtert, wir seien ein ganz besonderes und einzigartiges Land. Später hinterfragst du das Ganze und realisierst, dass es vielen Menschen materiell nicht gut geht. Wir erleben ein Imperium im Niedergang.
Ich wollte in meinem Buch die Wirklichkeit beschreiben. Das Narrativ lautet: In den USA ist jeder ein Millionär in der Warteschlange – bald hast auch du deine erste Million zusammen, keine Sorge! Die Statistik sagt aber etwas anderes: Wer in den USA einmal arm ist, dessen Kinder werden auch arm sein.
Deshalb finde ich es respektlos, den „Working Poor“ immer wieder diesen Mythos zu predigen. Es ist Zeit, dass wir uns ehrlich darüber unterhalten, wer wir als Nation sind und wie es weitergehen soll.
„Überfluss“. Von Jakob Guanzon. Aus dem amerikanischen Englisch von Dietlind Falk. Elster & Salis, Zürich, 2023.
Das Interview führte Friederike Biron