„Unser Trauma hat Millionen Gesichter“
Interview von Dorota Danielewicz
Frau Bator, Ihr aktueller Roman „Gorzko, gorzko“ (auf Deutsch „Bitter, bitter“) erzählt die Geschichte von vier Frauen aus verschiedenen Generationen einer Familie. Wie kamen Sie zu Ihren Figuren?
Die Idee für „Gorzko, gorzko“ kam mir während eines Spazierganges auf einem Friedhof in Unisław Śląski. Vor dem Zweiten Weltkrieg hieß der Ort Langwaltersdorf und gehörte zu Deutschland. Das Wetter war für meine Bücher charakteristisch, das heißt: Schneeregen und Trostlosigkeit, und ich las auf einem Grabstein den Vornamen „Winifred“. Daraus ist Winifreda entstanden, die Mutter von Berta Koch in „Gorzko, gorzko“.
Dazu kam eine Geschichte, die mir mein Freund Mateusz erzählte, über eine Frau, die Anna Jungitsch hieß. Angeblich hatte sie 1829 ihren Vater umgebracht, zu Wurst verarbeitet und aufgegessen. Ich sage „angeblich“, weil es wohl eine Zeitungsente war. Aber mich hat die Symbolkraft dieser Geschichte beeindruckt: eine junge wütende Frau, die ihren Vater umbringt und seinen Körper verzehrt.
„Ich wollte eine Emanzipationsgeschichte schreiben, in der sich vier Protagonistinnen von den Zwängen ihrer Existenz befreien“
Eine solche Situation, einen Ritualmord, hat Freud in der „Urhorde“ beschrieben, wo die Söhne ihren Vater ermorden und verspeisen, um seine Kraft in sich aufzunehmen. Gleichzeitig beten sie ihn an, um sich ihres Schuldgefühls zu entledigen – der Beginn der patriarchalen Kultur.
Durch Anna, die ihren Vater verzehrt, kristallisierte sich ein Thema heraus, das schon seit Jahren in mir reifte: eine Emanzipationsgeschichte in Form einer Sage, in der sich die Schicksale von vier Protagonistinnen verflechten, die der Wunsch verbindet, sich von den Zwängen ihrer Existenz zu befreien.
Den Anfang macht Berta, Winifredas Tochter. Sie wiederholt Annas Tat und eröffnet eine Erzählung über weiblichen Mut, Schmerz und Hoffnung.
Die Inspiration für Ihr Buch haben Sie wieder an ihrem Heimatort gefunden, in der Nähe von Wałbrzych, dem ehemaligen Waldenburg.
Bei meinen ersten drei Romanen habe ich das als Fluch empfunden, diese ständige Rückkehr zu einem Ort, an dem ich als Kind nicht glücklich war. Erst mit dem neuen Buch habe ich plötzlich etwas Spannendes gespürt, nämlich dass das mütterliche Erbe sich verändert und erweitert.
Unisław Śląski zum Beispiel, das gute zehn Kilometer von Wałbrzych entfernt ist und wo ich die ersten 18 Jahre meines Lebens verbracht habe, hat mir nichts bedeutet. Und plötzlich erblühte es auf der Landkarte meiner Biografie zu einem der wichtigsten Orte, denn dort ist Berta geboren, Winifredas und Hans Kochs Tochter.
Welche Bedeutung hat Wałbrzych für Ihr Schreiben?
Wałbrzych ist der Ort auf der Welt und in Polen, wo ich auf eine besondere und einzigartige Weise die Wirklichkeit wahrnehme. Ich bin ganz offen, sauge mit allen Sinnen ein, und am Ende bin ich so reizüberflutet, dass ich nach der Rückkehr zu Hause zwei Tage lang in Stille verbringen muss.
„Mein Großvater war Alkoholiker, und meine Großmutter versuchte, das zu verheimlichen. Sie hatten viele traumatische Erinnerungen“
Ich glaube, dass diese literarische Empfindsamkeit mit dem sehr persönlichen Prozess zusammenhängt, sich selbst zu verstehen, die eigene Vergangenheit, das Drehbuch, das mir in meiner Kindheit eingespielt wurde.
Ich könnte ohne die schönsten Städte der Welt schreiben, in denen ich mein halbes Leben verbracht habe, aber ohne Wałbrzych könnte ich das nicht.
In kommunistischer Zeit wurde nicht über die deutsche Vergangenheit der sogenannten „wiedergewonnenen Gebiete“ gesprochen. In welcher Form ist Ihnen die deutsche Geschichte in Schlesien in Ihrer Kindheit begegnet?
Die ersten sechs Jahre meines Lebens habe ich im Haus meiner Großeltern väterlicherseits verbracht. Das war ein ehemals deutsches Mietshaus. Nach dem Krieg hatten meine Großeltern dort eine Wohnung belegt, in der es noch Gegenstände der vorherigen Bewohner gab, die diese Wohnung hatten verlassen müssen.
Bis heute habe ich eine Bowleschale, die sie dort zurückgelassen hatten. Dieses Objekt hatte für mich als kleines Mädchen etwas Magisches, weil es seines Zweckes beraubt war. In der Familie meiner Großeltern wurde keine Bowle getrunken. Es gibt ein Wort für alles, was ehemals deutsch war: „poniemieckie“, das ist sehr früh in meinen Geist eingesickert.
„Ehemals deutsch“, das heißt, das waren „di e Anderen“. Von ihnen waren in der Wohnung Spuren geblieben. Meine Großeltern waren unglückliche Menschen. Mein Großvater war Alkoholiker, und meine Oma versuchte, seine Krankheit vor den Nachbarn zu verheimlichen. In der Wohnung der Deutschen ging es ihnen schlecht. Sie hatten selbst viele traumatische Erinnerungen, und sie führten auch keine gute Ehe.
„,Ehemals deutsch‘, das waren „die Anderen“. Von ihnen waren in der Wohnung Spuren geblieben“
Meine emotionalen Fundamente sind geprägt von der Schwärze und der Traurigkeit dieses Hauses, in dem ich sechs sehr einsame Jahre meines Lebens inmitten von faszinierenden, ehemals deutschen Gegenständen verbracht habe, mit denen ich in Beziehung trat, weil ich keine Gleichaltrigen zum Spielen hatte.
Außer meiner erdachten Freundin Helga, einer Deutschen, die geblieben war und einen Polen geheiratet hatte. Ich versteckte mich mit ihr im Schrank, in dem meine Oma einen Sack voll Zucker aufbewahrte, für den Fall, dass wieder ein Krieg ausbricht, und ich aß diesen Zucker. Bis heute erinnere ich mich, wie es sich anfühlt, die groben Körner vom Finger zu schlecken.
In „Gorzko, gorzko“ wird ein Trauma von Generation zu Generation weitergegeben. Würden Sie sagen, es gibt so etwas wie ein kollektives Trauma der polnischen Frauen?
Ich denke, das gemeinsame Trauma liegt in der Erfahrung, in einer patriarchalen Kultur aufgewachsen zu sein, die lebensgefährlich verseucht ist vom Katholizismus.
Unser Trauma hat Millionen Gesichter, und in ihnen sind Ähnlichkeiten wahrnehmbar, etwa im Verhältnis der Frauen zur Sexualität und zu ihrem Körper – mit einer tief eingepflanzten Scham, die einem die Stimme nimmt.
„Das gemeinsame Trauma der polnischen Frauen liegt in der Erfahrung, in einer patriarchalen Kultur aufgewachsen zu sein“
Das ist auch ein großes Thema der Frauenproteste in Polen: Mein Körper gehört mir. Hierbei geht es nicht allein um den Zwang der Reproduktion, sondern auch darum, selbst Grenzen zu setzen.
Die Forderung nach einem Recht darauf, dass die eigenen Grenzen nicht überschritten werden, ist in der polnischen Kultur neu. Jede von uns hat am Ende schamvolle Geschichten von Grenzen, die von Menschen überschritten wurden, die dies niemals hätten tun dürfen.
Heute wird darüber diskutiert, was in Theatern, im Showbusiness und an Hochschulen vorgefallen ist. Das, was dort passiert ist, wird als Teil der sogenannten Vergewaltigungskultur verstanden, in der ein Mann dazu berechtigt ist, verbale, emotionale, ökonomische und körperliche Gewalt anzuwenden. Wir kämpfen dagegen und langsam sind Fortschritte zu sehen.
Wie bewerten Sie die Frauenproteste in Polen? Sehen Sie eine Chance auf Veränderungen?
Ich befürchte, hoffentlich grundlos, dass diese gewaltige Energie, die auf den Straßen war, verspielt wird. Und ich weiß nicht, ob wir noch einmal die Kraft für so einen Aufruhr haben werden. Die polnische Opposition begeht alle paar Tage einen neuen spektakulären Selbstmord, anstatt an Kraft dazuzugewinnen und diese gewaltige weibliche Energie auszunutzen.
Proteste sind dazu da, dass eine politische Kraft aus ihnen hervorgeht, ansonsten werden sie schwächer und verschwinden. Wir brauchen genau das, was in einer Demokratie wirkt, nämlich eine politische Partei, die diese Idee ins Parlament trägt.
Doch auf der derzeitigen politischen Bühne interessieren die Rechte von Frauen in Wirklichkeit niemanden. Das, was gut ist, geschieht außerhalb des Parlaments, außerhalb der organisierten Politik.
Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller