Flüchtig wie Wanderdünen
Der Gott der Juden ist bekanntlich kein besonders sympathischer Typ. Wer die Bibel liest, kann bestätigen, dass dieser Gott zu Wutausbrüchen und Eifersuchtsanfällen neigt, selbst vor handfesten Gewalttaten nicht zurückschreckt. Aber es gibt auch Momente der Gnade oder sogar der Romantik.
Zu den schönsten Beispielen dafür zählt ein Vers im Buch Jeremia, wo Gott zu seinem Volk, das hier mit einer sündigen Frau gleichgesetzt wird, sagt: „Ich denke an deine Jugendtreue, an die Liebe deiner Brautzeit, wie du mir in die Wüste gefolgt bist, im Land ohne Aussaat.“ Die Bereitschaft, der Gottheit in die Wüste zu folgen, gilt als ultimativer Liebesbeweis. In diesem Sinn ist die Wüste weit mehr als ein geografischer Begriff: Sie ist ein Symbol, wenn auch ein trügerisches – fast so flüchtig wie die Wanderdünen, die vor unseren Augen Ort und Form wechseln.
„Die Bereitschaft, der Gottheit in die Wüste zu folgen, gilt als ultimativer Liebesbeweis“
Wenn jemand bereit ist, uns in unsere private Wüste zu folgen, will er uns an den wüsten, öden Ort begleiten, an dem wir hilflos und verloren sind. Als Psychologin kenne ich diesen Moment, in dem eine Patientin am Rand ihrer privaten Wüste steht und schaut, ob ich den Mut habe, mit ihr hineinzugehen. Und ich erinnere mich dankbar an die geliebten Menschen, die bereit waren, meine Wüste mit mir zu betreten und mir hindurchgeholfen haben.
Aber die Wüste ist nicht nur die ultimative Liebesprobe, eine Hölle, die es zu überstehen gilt. Die Wüste ist auch ein Symbol für die totale Befreiung aus den Alltagsbanden von Besitz und Materie. Der Philosoph und Psychologe Erich Fromm schreibt: „Die Wüste ist das wichtigste Symbol der Befreiung. Die Wüste ist kein Haus. Es gibt darin keine Städte. Keinen Besitz. Es ist der Ort der Nomaden, die haben, was sie brauchen, und was sie brauchen, ist nichts als die lebensnotwendigen Dinge, keine Güter... Das Leben in der Wüste ist eine Vorbereitung für ein freies Leben.“
Bei einem Ausflug in die Wüste bei Eilat traf ich einen solchen Nomaden, einen jungen Mann, der sich vorgenommen hatte, Israel vom nördlichsten bis zum südlichsten Punkt zu durchwandern. Doch als er die Wüste vor Eilat erreichte, zwei Tage vom Ende seiner dreimonatigen Tour entfernt, hielt er an. „Ich will nicht ankommen“, sagte er mir.
„In Eilat wäre die Reise zu Ende, ich müsste in die Universität gehen, eine Wohnung mieten, Möbel und Kleidung kaufen. Gerade habe ich nur meinen Rucksack, und mir fehlt nichts.“ Ich beneidete ihn um seine totale Befreiung, dachte aber auch, die Wanderlust könnte leicht in Abhängigkeit enden, gar versklaven.
„Die Wüste ist auch ein Symbol für die Befreiung aus den Alltagsbanden von Besitz und Materie“
Der israelische Schriftsteller Meir Shalev schickte den Helden seines Romans „Im Haus der Großen Frau“ zeitweilig in die Wüste, für den Autor der Gegenpol zur geschäftigen Stadt, ein Ort zum Nachdenken und Träumen, fern der treibenden Menge in der lauten Großstadt.
Für Shalevs exilierten Helden ist die Wüste ein Ort der Zuflucht, aber auch der Begegnung – der einzige Ort, an dem der Protagonist sich selbst begegnen kann. Die völlige Leere ringsum lässt ihn, vielleicht erstmals, seine innere Stimme hören, Selbstgespräche führen. Und tatsächlich wird das hebräische Wort „midbar“ für „Wüste“ genauso geschrieben wie das Wort „medaber“ für „(er) redet“.
Wer in Nordeuropa wandert, hört unterwegs für gewöhnlich Vögel singen, einen Bach plätschern, trockenes Laub am Boden oder Blätter an den Bäumen rascheln. Wer durch die Wüste läuft, hört nichts von alldem. Mangels fließender Wasserläufe und ohne Pflanzen und Bäume geht der Mensch manchmal stundenlang in völliger Stille. Ja, vielleicht ist die Wüstenstille derart dröhnend, dass den Wandernden nichts anderes übrigbleibt, als Gott zu vernehmen.
„Wer durch die Wüste läuft, geht manchmal stundenlang in völliger Stille“
Die Wüste Sinai, die das Volk Israel nach dem Auszug aus Ägypten durchwanderte, war der Ort, an dem Gott sich ihm in Wort und Tat offenbarte. Und dort wurden der Menschheit auch die Zehn Gebote verkündet. Bei dieser interessanten Platzwahl der monotheistischen Mythologie lohnt es sich, kurz zu verweilen.
Die Zehn Gebote sind der Grundstock vieler Kulturen. Sie regeln die sozialen und moralischen Beziehungen, die vielen geordneten menschlichen Gesellschaften zugrunde liegen. Doch diese Gebote wurden nicht in der Stadt, im Zentrum der Zivilisation, verkündet, sondern mitten in der Wüste, in der Ödnis, vielleicht, um uns klarzumachen, dass diese Gebote, die ganze Ethik, notwendige Voraussetzungen dafür sind, feste Wohnorte und Institutionen gründen zu können, vielleicht auch, um ihr universales Wesen zu verankern, das über jede spezifische Stadt oder Ansiedlung hinausgeht.
Angesichts der festen Verankerung der Wüste Sinai im jüdischen Kollektivgedächtnis ist bemerkenswert, wie stark die Wüste auch ein Ort des Vergessens ist.
„Jahrelang war die Negev-Wüste Israels Hinterhof, exterritoriales Gelände“
Über hunderttausend Beduinen leben heute in der Negev-Wüste, die meisten in Dörfern, die der Staat nicht anerkennt und daher nicht ans Wasser- und Stromnetz anschließt. Auf Google Maps sucht man diese Dörfer vergeblich. Die Landkarte von Google verzeichnet nur öde, menschenleere Wüste. Aber die Beduinen sind da, unter dem Deckmantel unserer Verdrängung.
Jahrelang war die Negev-Wüste Israels Hinterhof, exterritoriales Gelände. Die Haushaltsgelder flossen in die großen urbanen Zentren, während die Beduinen und die Bewohner der Entwicklungsstädte vernachlässigt wurden. Gerade jetzt, nach dem furchtbaren Massaker durch die Hamas, lässt sich menschliche Solidarität mitten in der Wüste beobachten: Juden und Araber kamen den Bewohnern der Beduinendörfer zu Hilfe, die von Raketen getroffen worden waren.
Der Oktober 2023 ist ein weiteres furchtbares Kapitel in der israelischen Wüste. In der Nacht vom 6. zum 7. Oktober, im Schein des Halbmonds, trafen sich Tausende junger Menschen zu einem Musikfestival in der nordwestlichen Negev-Wüste, beim Kibbuz Reim.
Sie tanzten unter dem Sternenhimmel bis zu dem Moment, in dem die Sterne auf sie niederprasselten, als Raketen auf die Feiernden abgeschossen wurden und Hamas-Terroristen mit ihren Gewehren die meisten derer niedermachten, die zu flüchten versuchten. Hunderte Festivalbesucher wurden ermordet. Besorgte Eltern, die keine Antwort von ihren Kindern erhielten, fuhren mit ihren Autos nach Süden, auf der Suche nach ihren Lieben.
„Das blühende Luxushotel inmitten der Wüste ist eine fortwährende Hölle des Wartens geworden“
In den folgenden Tagen evakuierte man Hunderttausende von Überlebenden des Angriffs in Hotels in Eilat und am Toten Meer. Ich habe sie dort getroffen, als ich mit einem Team des Krankenhauses, in dem ich arbeite, hingeschickt wurde, um den Geretteten psychologische Hilfe zu leisten.
Die Lobby des Hotels blickt auf die Berge von Moab, vollendete rote Sonnenuntergänge sind vom Speisesaal aus zu bewundern. Die Natur draußen steht in krassem Gegensatz zu dem, was sich drinnen im Hotel abspielt. Diese Menschen sind nicht im Urlaub hier. Sie sind um ihr Leben geflohen.
Der Ort, der ihr Zuhause war, ist in Flammen aufgegangen, und nun warten sie auf Nachrichten über ihre Angehörigen, die nach Gaza entführt wurden. Das blühende Luxushotel inmitten der Wüste ist für sie eine fortwährende Hölle des Wartens auf Auskunft, ob ihre Lieben noch am Leben sind.
Auch diese Bilder werden von nun an unsere Vorstellungswelt von der Wüste prägen.