„Ohne unsere Chips geht in keinem Auto das Fenster auf“
Shieh Jhy-Wey, in der Außenpolitik anderer Staaten und insbesondere der USA spielt Taiwan seit Jahren eine wichtige Rolle. In Deutschland wird Ihrer Heimat eher weniger Aufmerksamkeit beigemessen. Liegt das nur an der geografischen Distanz?
Eine Zeit lang lag Taiwan nicht nur geografisch fern von Deutschland, sondern auch was den Kopf anbelangt. Es war sogar tabuisiert. Das ändert sich nun langsam. Trotzdem ist es natürlich vielsagend, dass ich nicht in der „Taiwanischen Botschaft“ oder der „Taiwan-Vertretung“ arbeite, sondern in der „Taipeh-Vertretung“.
Das liegt daran, dass die chinesische Regierung Taiwan für sich beansprucht und damit eine absurde Situation kreiert: Taiwan erfüllt jede Voraussetzung für einen Staat, wird aber trotzdem vom Großteil der Welt nicht als Staat anerkannt.
Hintergrund ist die Ein-China-Politik, die auch Deutschlands diplomatische Beziehungen zu Taiwan limitiert. Wie viel Verständnis haben Sie für die Haltung der deutschen Regierung?
Ich kann sie verstehen, aber ich bringe ihr kein Verständnis entgegen. Bis 1987 herrschten sowohl in China als auch in Taiwan Diktatoren. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich die Behandlung Taiwans noch nachvollziehen. Aber danach?
Das Kriegsrecht wurde aufgehoben, die Demokratie blühte auf, das Land entwickelt sich, inklusive freier Wahlen, eines Mehrparteiensystems und Meinungsfreiheit. Derweil entwickelt sich China spätestens seit dem Tian’anmen-Massaker von 1989, bei dem die sogenannte Volksbefreiungsarmee auf das eigene Volk schoss, in eine komplett andere Richtung.
Nicht zuletzt deshalb empfinde ich die heutige Situation als ungerecht. Sie muss sich verändern – und zwar zugunsten von Taiwan. Viele sagen zwar, man könne diesen Status quo aufgrund der Ein-China-Politik nicht ändern, aber das halte ich für falsch. Es gibt viele Beispiele und politische Momente, in denen die Welt sich grundlegend verändert hat. Wenn man keine neuen Wege gehen könnte, dann würde auch die Berliner Mauer noch stehen.
„Über sechzig Prozent der Komponenten von Apple-Produkten stammen aus taiwanischen Unternehmen.“
Nun könnte man aber auch sagen: Taiwan ist eine vergleichsweise kleine Insel, auf der etwas mehr Menschen leben als in Rumänien. Warum sollten wir uns für dieses Land interessieren?
Zum Beispiel, weil es ohne Taiwan auch keine deutschen Autos gäbe. Ein deutsches Auto ist zwar schön und teuer, aber ohne taiwanische Computerchips ginge weder das Fenster auf noch könnte man den Seitenspiegel elektronisch verstellen.
Wahrscheinlich wäre das Einzige, was noch funktionieren würde, das Warndreieck. Aber selbst das könnte man wahrscheinlich nicht benutzen, weil der Kofferraum nicht aufginge. Ein anderes Beispiel sind Smartphones und Computer: Über sechzig Prozent der Komponenten von Apple-Produkten stammen aus taiwanischen Unternehmen.
Und so kann ich weitermachen: Industriemaschinen, Biotechnik, smarte Waffen und Raketen – viele Dinge würden ohne taiwanische Chips nicht funktionieren.
Ärgert es Sie deshalb umso mehr, dass Taiwan in der deutschen Debatte meist nur dann erwähnt wird, wenn das Stichwort China fällt?
Nein. Denn ich merke ja, dass hierzulande immer mehr Menschen anfangen, über Taiwan nachzudenken. Das werte ich erst mal als Erfolg. Dass China immer wieder Thema ist, ist aber natürlich keine Überraschung.
Immerhin bleibt die Volksrepublik in der deutschen Wahrnehmung größer und wichtiger als Taiwan. Am Ende ist das deutsch-chinesische Handelsvolumen ja auch zehnmal so groß wie das deutsch-taiwanische. Und ein bisschen sind wir auch selbst schuld daran, dass wir so lange im Schatten Chinas gestanden haben.
Unter der Kuomintang (KMT) und Diktator Chiang Kai-Shek hat sich Taiwan jahrzehntelang nicht selbst repräsentiert, sondern ist als „Republic of China“ aufgetreten. Das hat die Wahrnehmung im Ausland nachhaltig geprägt.
„Die Drohungen aus China gab es immer, aber der Ton ist noch härter geworden.“
Zuletzt ist die chinesische Rhetorik gegenüber Taiwan immer schärfer geworden. Wie schätzen Sie die aktuelle Sicherheitslage Taiwans vor diesem Hintergrund ein?
Die Lage ist beängstigend. Wir leben zwar seit Jahrzehnten mit der Androhung eines Invasionskriegs, aber mittlerweile ist der Ton noch härter geworden. Unter der Führung von Xi Jinping ist die Gefahr, dass die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) diese waghalsige Idee umsetzt, heute realer denn je.
Ein Grund dafür ist, dass Peking die Zeit wegläuft. Ein Teil der Generation meiner Eltern und auch ein Teil meiner Generation haben sich noch lange an die Idee geklammert, man würde irgendwann auf das chinesische Festland zurückkehren. Man müsste nur die Kommunisten vertreiben, dann wäre man wieder daheim.
Für all diese Menschen war Taiwan keine feste Bleibe, sondern nur ein Zufluchtsort. Doch mit der Zeit hat sich das geändert. Die Bindung zu Festlandchina ist verschwunden, die direkten Blutsbande verwässern von Generation zu Generation und spätestens mit dem Wandel zur Demokratie hat sich Taiwan auch als Idee etabliert. Das Land ist nun für viele eine Heimat, die neue Werte verkörpert und die es zu verteidigen lohnt.
Machen Sie sich Sorgen, dass Deutschland mit Blick auf Taiwan den gleichen Fehler begeht, den man schon in der Ukraine begangen hat: sich also erneut zu spät dazu durchringt, eine Demokratie zu unterstützen und einem autokratischen Aggressor Widerstand zu leisten?
Erst mal muss man festhalten, dass Deutschland ohne Putins Invasion der Ukraine wohl nie auf die Idee einer Zeitenwende gekommen wäre. Es geht fast ausschließlich auf diesen Krieg zurück, dass man jetzt verstärkt hinterfragt, ob man die eigenen demokratischen Werte nicht entschiedener vertreten muss, und erkennt, dass der „Wandel durch Handel“ mit autoritären Regimen wie Russland und China vielleicht nicht funktioniert.
Man hätte das natürlich auch früher erkennen können, aber ich glaube, man muss diese Haltung ein Stück weit verstehen. Seit dem Zweiten Weltkrieg steht Deutschland für Dialog, Handel und Entwicklungshilfe. Von einem Tag auf den anderen mit dieser friedlichen Tradition zu brechen, ist kompliziert.
Spricht man mit Expertinnen und Experten, dann beanstanden diese mitunter, dass Berlin keine klare Taiwan-Strategie verfolgt. Sehen Sie das ähnlich?
Ich denke eigentlich, dass wir uns gerade in einer Phase befinden, in der Deutschland einen Übergang von einer „Chinapolitik“ zu einer „Chinastrategie“ vollzieht und dabei auch seine Haltung zu Taiwan neu denkt. Das gefällt Peking natürlich gar nicht, denn es bedeutet: China wird hierzulande, genauso wie in den USA, immer mehr als strategischer und politischer Rivale wahrgenommen.
„Trotz des demokratischen Wandels ist Taiwan auch heute noch tief gespalten.“
Trotz der Bedrohung durch China und trotz vieler innenpolitischer Verwerfungen hat sich Taiwan über die Jahre zu einer der stabilsten Demokratien in der Region entwickelt. Wo steht die taiwanische Gesellschaft heute?
Meiner Einschätzung nach ist sie trotz des demokratischen Wandels weiterhin stark gespalten. Das kann man vor allem dann gut beobachten, wenn die Drohungen aus China schärfer werden. Dann gibt es einerseits Menschen, die außer sich sind, und andererseits Teile der Gesellschaft, die beschwichtigen und sagen: „Man darf China nicht provozieren!“
Dazu muss man verstehen, dass Taiwan unter Chiang Kai-Shek, der mit seinen Truppen 1949 auf der Flucht vor den Kommunisten auf die Insel übersetzte, jahrzehntelang im Kriegszustand regiert wurde. Der General kam damals mit rund zwei Millionen Festländern an und traf auf etwa sechs Millionen Taiwanerinnen und Taiwaner, die er gefügig machen wollte.
Es folgten Hinrichtungen, Ermordungen und der Aufbau eines KMT-Machtapparats, der sich erst mit der Aufhebung des Kriegsrechts 1987 und mit den ersten freien Wahlen 1992 auflöste. Bis heute sitzen an vielen Schaltstellen der Macht, vom Postamt bis zum Militär, jedoch immer noch Menschen, die eine Verbindung zum Festland haben.
Dazu passt, dass mit Chiang Wan-an im November 2022 ein KMT-Politiker zum Bürgermeister von Taipeh gewählt wurde, der sich damit brüstet, der Urenkel von Chiang Kai-Shek zu sein. Ist die Aufarbeitung der Diktatur gelungen?
Ein deutsches Wort, das mir gefällt, lautet „Vergangenheitsbewältigung“. So etwas hat es in Taiwan allerdings nie gegeben. Deshalb wird der Übergang zur Demokratie Anfang der 1990er-Jahre auch als stille Revolution bezeichnet. Es war ein Kompromiss.
Das Volk bekam die Macht, aber dafür wurden die alten KMT-Funktionäre nicht zur Rechenschaft gezogen. Zwischen 1947 und Ende der 1980er-Jahre sind in Taiwan sicher weit über 10.000 Menschen umgebracht oder zum Tode verurteilt worden. Aber kein einziger Richter, kein einziger Staatsanwalt, kein einziger Täter wurde belangt. Da ist es kein Wunder, dass das Land weiterhin zerrissen ist ...
... und die KMT weiterhin einen großen Einfluss hat, auch wenn die amtierende Präsidentin Tsai Ing-wen derzeit von der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) gestellt wird.
Die KMT hat in den vergangenen drei Jahrzehnten zwar zweimal die Präsidentschaftswahlen verloren, aber in den Landtagswahlen wurde ihr Einfluss bislang nie gebrochen. Nimmt man das Beispiel Deutschland, dann wäre das etwa so, als wenn die SED nach der deutschen Wiedervereinigung weitergemacht hätte, ohne ihren Namen zu ändern.
Problematisch ist das für Taiwan vor allem, weil die KMT-Führung weiterhin relativ enge Beziehungen mit China pflegt. So gratulierte Xi Jinping dem neuen Vorsitzenden der KMT, Eric Chu, 2021 zu seinem neuen Amt. Und wissen Sie, was der dem chinesischen Staatspräsidenten unter anderem antwortete?
Er hoffe auf die gemeinsame Bekämpfung der taiwanischen Unabhängigkeit von China! Natürlich denken nicht alle Anhänger der Partei so. Aber wenn eine der zwei Parteien im Land nicht an die Souveränität des eigenen Staates glaubt, dann ist das für eine Demokratie natürlich ein Problem.
„Die militärischen Vorbereitungen für eine Invasion Taiwans sind hinter den Kulissen bereits in vollem Gange.“
Wie sehen Sie die Zukunft des Landes?
Bis vor Kurzem wäre meine Prognose noch skeptischer ausgefallen. Immerhin haben wir erlebt, was in Hongkong passiert ist, und verfolgt, wie der Einfluss Chinas in der Welt immer weiter gewachsen ist. Unter diesen Vorzeichen – und mit dem Wissen, dass China in Taiwan weitaus härter durchgreifen müsste als in Hongkong – konnte man eigentlich nur pessimistisch sein.
Aber nach der russischen Invasion in der Ukraine und mit der neuen, härteren Chinapolitik der USA, die mit Trump angefangen hat und derzeit unter Biden fortgesetzt wird, sieht die Welt wieder anders aus. Die westlichen Demokratien haben ihre Politik der Ambiguität ein Stück weit aufgegeben und es bilden sich klare Fronten. Auf der einen Seite stehen Staaten wie China, Russland, Iran und Nordkorea und auf der anderen Seite eine demokratische Allianz. Das macht mir Hoffnung.
Trotzdem geht Ihr Verteidigungsminister Chiu Kuo-Cheng laut eigenem Bekunden davon aus, dass ab 2025 erhöhte Kriegsgefahr bestehen wird. Dann habe China womöglich die militärische Fähigkeit, eine „komplette Invasion“ anzustreben. Beschäftigen Sie sich mit diesem Szenario?
Die militärischen Vorbereitungen für ein solches Szenario sind hinter den Kulissen bereits in vollem Gange. Die USA sind schon im Pazifik aktiv und haben gerade erst neue Vereinbarungen über Marinestützpunkte auf den Philippinen getroffen.
Und auch die Australier bauen ihre Präsenz im Indopazifik aus. Ich beschäftige mich aber lieber damit, wie wir einen Konflikt verhindern können. Bislang hat es China – genauso wie Russland – sehr gut verstanden, westliche Demokratien auseinanderzutreiben. Aber jetzt ist der Westen durch Putins Vorgehen in der Ukraine wachgerüttelt worden.
Ob das nun ausreicht, Taiwan vor einer chinesischen Invasion zu schützen, kann ich nicht sagen. Aber ich möchte an dieser Stelle den General Douglas MacArthur zitieren, der im Zweiten Weltkrieg den pazifischen Arm der US-Armee befehligte und damals in einem Memorandum an seinen Präsidenten, Harry S. Truman, schrieb: „Ich bin überzeugt, dass das geostrategische Interesse der Vereinigten Staaten akut gefährdet wäre, sollte eine feindliche Macht Formosa (Taiwan) unter ihre Kontrolle bringen.“ Das war 1950, also vor mehr als 72 Jahren, aber das Statement ist heute genauso wahr wie damals. Und es geht nicht mehr nur um die Interessen der USA.
Das Interview führten Lena Fiedler und Kai Schnier