Die Chipfabrik der Welt
Taiwan hat sich zum wichtigsten Dienstleister in der globalen Digitalwirtschaft entwickelt. Doch nicht nur im Hightech-Sektor leistet die Inselrepublik herausragende Arbeit
Die Bedeutung, aber auch die Fragilität globaler Lieferketten zeigt sich am deutlichsten in Zeiten der Krise. Als der Welt im Jahr 2021 im Zuge der Coronapandemie die Mikrochips ausgingen, gerieten Schlüsselindustrien wie die Automobil- und Hightechbranche massiv unter Druck. Führende Politiker, darunter der ehemalige deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier, wandten sich damals jedoch nicht etwa hilfesuchend an die USA. Ihr Adressat war Taiwan, das etwa 75 Prozent der Mikrochips auf dem Weltmarkt produziert.
Die Bedeutung der taiwanischen Wirtschaft wurde abermals im August des vergangenen Jahres deutlich, als China in Reaktion auf den Taipeh-Besuch von Nancy Pelosi, der damaligen Sprecherin des US- Repräsentantenhauses, die Muskeln spielen ließ und vor der Küste Taiwans zu Luft und zu Wasser militärische Manöver abhielt. Spätestens jetzt wurde diskutiert, was für unabsehbare Folgen es hätte, wenn die „Siliziuminsel“ an die Volksrepublik fiele.
„The Economist“ brachte es in seiner Ausgabe vom Mai 2021 dramatisch auf den Punkt, als darin Taiwan, diese 160 Kilometer von der Ostküste Festlandchinas gelegene Insel mit rund 23 Millionen Einwohnern, als der „gefährlichste Ort der Welt“ bezeichnet wurde. Denn die Welt ist abhängig von hochwertigen Halbleitern, Funktionstextilien und Produkten der Informations- und Kommunikationstechnologie „made in Taiwan“: ob Sneaker, Smartphones oder 5G- und KI-Anwendungen.
„Ganz allmählich entwickelte sich Taiwan zu einem bedeutenden Exporteur von Textilien, Elektrogeräten und weiteren Konsumgütern“
In seinem Bestseller „Chip War: The Fight for the World’s Most Critical Technology“ beschreibt der Autor Chris Miller, dass sich die Großmächte der Welt heute nicht mehr um Stahl und Öl, sondern um den Zugang zu Halbleitertechnologien streiten. Schätzungen zufolge war Taiwan im Jahr 2022 in diesem sensiblen Bereich nicht nur für weltweit knapp achtzig Prozent der Fertigung, sondern auch für 22 Prozent des sogenannten „integrated circuit design“, der Gestaltung und Optimierung integrierter Schaltkreise und Chipmodule, verantwortlich.
Zudem übernimmt der Inselstaat auch bereits 58 Prozent der Montage, der Prüfung und der Verpackung dieser Komponenten. Dieses komplexe industrielle „Ökosystem“ ist weltweit einmalig. Doch hierhin war es ein weiter Weg. Vor siebzig Jahren zogen sich die Anhänger der Kuomintang (KMT) vom chinesischen Festland nach Taiwan zurück. Damals war die Insel einkommensschwach, hatte eine landwirtschaftlich geprägte Ökonomie und war in hohem Maße von der Unterstützung der USA abhängig.
Angesichts eines begrenzten Binnenmarktes und knapper natürlicher Ressourcen beschloss die taiwanische Regierung sich für den Weltmarkt zu öffnen und errichtete im Jahr 1969 in der Stadt Kaohsiung die erste Freihandelszone Asiens. Weitere Reformen und umfangreiche Infrastrukturprojekte wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren initiiert.
Ganz allmählich entwickelte sich Taiwan zu einem bedeutenden Exporteur von Textilien, Elektrogeräten und weiteren Konsumgütern und erlebte in dieser Zeit ein rasantes Wirtschaftswachstum. Bald schon galt die Inselrepublik als eines der wirtschaftlich erfolgreichsten Schwellenländer und schwang sich neben Singapur, Südkorea und Hongkong zu einem der vier „Tigerstaaten“ auf.
Und doch stand man bald allein da. Denn der wirtschaftliche Aufschwung ging einher mit einer außenpolitischenIsolation: 1971 musste sichTaiwan zugunsten der Volksrepublik China aus den Vereinten Nationen zurückziehen. Erst dreißig Jahre später wurde das Land als gesondertes Zollgebiet in die Welthandelsorganisation aufgenommen, darf aber bis zum heutigen Tag in vielen internationalen Organisationen nicht mitarbeiten.
Das führte wiederum zu enormen Schwierigkeiten bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Nachbarstaaten und dem Abschluss von internationalen Handelsabkommen. Der ökonomische Aufstieg gelang Taiwan trotz alledem. Einer der Gründe dafür ist das sogenannte ODM-Modell der taiwanischen Wirtschaft.
Soll heißen: Taiwan ist ein „Original Design Manufacturer“, der im Hintergrund heimlich, still und leise große Teile der Entwicklung, Produktion und Logistik diverser internationaler Marken übernommen hat. Anders als in Japan und Korea werden hier nicht zwangsweise eigene bekannte Marken wie beispielsweise Samsung oder Toyota hervorgebracht, sondern für andere internationale Konzerne Auftragsfertigungen in großem Maß übernommen.
Das ermöglichte Taiwan in relativ kurzer Zeit eine immense wirtschaftliche Expansion und stabile Lieferketten. Zudem kommt das Modell auch kleineren und mittleren Unternehmen in Taiwan zugute, da es ihnen ermöglicht, Teil der globalen Wertschöpfungsketten zu werden. So werden schätzungsweise sechzig Prozent der weltweit produzierten Schuhe, darunter neunzig Prozent der Turnschuhe, von Betrieben hergestellt, die sich in taiwanischem Besitz befinden oder von Taiwan aus geleitet werden.
Etwa von der Pou Chen Group (PCG), die als weltweit größter Markenhersteller von Sport- und Freizeitschuhen jährlich 300 Millionen Paar Schuhe für Marken wie Nike, Adidas, New Balance und Timberland herstellt und dabei auf Produktionsstätten in China, Indonesien, Vietnam, den USA und Mexiko zurückgreift.
In den 1980er-Jahren wurde das ODM-Modell in Taiwan auf den Technologiesektor ausgeweitet, und schon bald dominierten taiwanische Unternehmen auch die Fertigung für westliche und japanische Elektronikgeräte. Auch wenn sich viele Kunden angesichts der schwierigen geopolitischen Lage Taiwans zunehmend diversifizieren, sind taiwanische Unternehmen wie Foxconn (auch bekannt als Hon Hai), Wistron und Pegatron oftmals noch immer die bedeutendsten Zulieferer von Global Playern wie Apple. Foxconn ist sogar der weltweit größte Produzent von Smartphones, Laptops und Spielekonsolen überhaupt und zudem der größte private Arbeitgeber in China.
„Sukzessive wurden Produktionskapazitäten ausgelagert, während der Bereich Forschung und Entwicklung in Taiwan verblieb“
Das besagte ODM-Modell ist derweil auch für die Halbleiterindustrie essenziell. Weltmarktführer ist hier mit weitem Abstand und mit über 29 Milliarden Dollar Jahresumsatz das taiwanische Unternehmen TSMC. Gleichzeitig verlagerte ein großer Teil der taiwanischen Wirtschaft seine Produktion auf der Suche nach billigeren Arbeitskräften bereits mit Beginn der 1980er-Jahre nach Südostasien.
1994 führte die Regierung die sogenannte Go-South-Politik ein, um Unternehmen zu ermutigen, im Ausland zu investieren und gleichzeitig die diplomatischen Beziehungen zu den dortigen Regierungen zu fördern. So tätigten taiwanische Unternehmen in den 1990er- und 2000er-Jahren in Thailand, Malaysia, Indonesien, den Philippinen und Vietnam die höchsten ausländischen Direktinvestitionen.
Sukzessive wurden Produktionskapazitäten ausgelagert, während der Bereich Forschung und Entwicklung in Taiwan verblieb. Später verlagerten taiwanesische Unternehmen ihre Aktivitäten von Südostasien nach China, Lateinamerika und in mitteleuropäische Länder wie die Tschechische Republik, Polen und Ungarn, um näher an ihren internationalen Kunden zu operieren.
1987 kam es dann zu einer historischen Entwicklung in den Beziehungen zu China. Der damalige taiwanische Präsident Chiang Ching-kuo, der Sohn des ehemaligen Diktators Chiang Kai-Shek, hob das seit 38 Jahren geltende und von seinem Vater mitverantwortete Kriegsrecht auf und erlaubte es den Einwohnern Taiwans, ihre Familien in China zu besuchen.
Zudem billigte Chiang auch den indirekten Handel mit sowie Investitionen in China, was für einen außerordentlichen wirtschaftlichen Boom sorgte. Im Dezember 2001 respektive im Januar 2002 wurden China und Taiwan in die Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen. Daraufhin verhandelten und unterzeichneten beide Seiten ein Rahmenabkommen über die wirtschaftliche Zusammenarbeit über die Taiwanstraße hinweg, das Cross Strait Economic Cooperation Framework Agreement, welches 2010 in Kraft trat.
„Will Taiwan weiterhin erfolgreich sein, dann muss das Land nationale Sicherheit und wirtschaftliche Robustheit verbinden und mit seinen demokratischen Partnern neue Bündnisse eingehen“
Zu diesem Zeitpunkt war China Empfänger von vierzig Prozent aller Exporte Taiwans größter Handelspartner. Auch die taiwanischen Kapitalflüsse nach China stiegen ab 2002 um das Dreifache und erreichten im Jahr 2010 einen Höchststand von 14,6 Milliarden US-Dollar, was 84 Prozent der gesamten Auslandsinvestitionen Taiwans ausmachte. Diese „Flitterwochen“ waren aber nicht von Dauer.
Im Jahr 2016 übernahm die Vorsitzende der Demokratischen Fortschrittspartei (DFP) Tsai Ing-wen das taiwanische Präsidentenamt und wagt seitdem den komplizierten politischen Balanceakt, die Beziehungen zu China zu erhalten, aber gleichzeitig auf Taiwans Autonomie zu bestehen. Anfang April reiste sie erstmals in offizieller Funktion in die USA – woraufhin China abermals mit umfangreichen Militärmanövern vor Taiwans Küste reagierte.
Will Taiwan weiterhin erfolgreich sein, dann muss das Land nationale Sicherheit und wirtschaftliche Robustheit verbinden und mit seinen demokratischen Partnern neue Bündnisse eingehen. Eine wichtige Rolle könnten dabei auch die deutsch-taiwanischen Beziehungen spielen, die zuletzt durch den Besuch der deutschen Bundesministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger, bestärkt wurden.
Es war der erste Besuch einer deutschen Ministerin in Taiwan seit knapp 26 Jahren. Taiwan wird darauf angewiesen sein, dass sich diese Art von Beziehungen verstetigen, ohne dabei China einen Vorwand zu geben, militärisch zu intervenieren. Ein Balanceakt, dessen Gelingen maßgeblich davon abhängt, ob die westlichen Partner in der Taiwanfrage auch in Zukunft geschlossen auftreten.
Aus dem Englischen von Ruben Donsbach