Nachtleben | Taiwan

Durch die Nacht von Taipeh

Unsere Autorin lässt sich durch die Stadt treiben, begegnet Menschen in Nachtclubs und trinkt frühmorgens gesüßte Sojamilch mit einem Date. Eine Geschichte über das Jungsein in Taiwan

Eine Club Szene. Im Hintergrund sitzen zwei junge Menschen. Vorne sieht man ein sich küssendes Pärchen. Er trägt einen schwarzen Hoodie. Sie hat lange schwarze Haare. Es ist dunkel.

Der Rapper PinkChain und seine Freundin, eine Filmregisseurin, auf dem Dancefloor des „Final“

Nachdem wir beide in verschiedenen Clubs durchgefeiert hatten, trafen wir uns im Morgengrauen in einer dieser Sojamilch-Bars, welche die ganze Nacht über offen haben. Das ist in Taiwan oft das Vorspiel zu etwas Romantischerem. Wir teilten uns ein Omelett und bestellten beide jeweils ein Glas gesüßte Sojamilch. Ich sagte, die Party im „Pipe“ sei gut gewesen, er antwortete, im „Final“ wären alle völlig ausgerastet.

Im Final war ich nur einmal vor vielen Monaten gewesen, und das auch nur durch Zufall. Ich kam aus irgendeiner Bar und fuhr anschließend ziellos mit dem Fahrrad durch die Stadt. Schon von Weitem sah ich eine größere Gruppe vor dem Club herumlungern. Sie alle schienen damit beschäftigt, cool auszusehen.

Die Mädchen waren in der knallbunten und futuristischen Y2K-Ästhetik der frühen Zweitausenderjahre gestylt, die Jungs trugen dunkle Designer-Brands wie Prototype Formula, Fe3c oder Remix Taipei. Am Rand stand verloren eine Gruppe von Touristen. Ich konnte den Bass, der aus dem Kellerclub drang, auf der Straße spüren. Ich ging hinein.

Es war wie auf der Wiedersehensparty eines Abiturjahrgangs. Jeder kannte jeden, nur wenige Leute tanzten, aber alle feierten den DJ, der offensichtlich keine Ahnung von Musik, aber dafür den richtigen Modestil hatte.

„Alle jungen Menschen träumen hier von der Zukunft“

Ich lebe seit fünf Jahren in Taipeh. Alle jungen Menschen träumen hier von der Zukunft. Die Stadt ist cool, der Himmel weiter als im übrigen Taiwan. Aber Taipeh ist eben auch wahnsinnig teuer. Eine Insel innerhalb einer Insel, isoliert und egozentrisch. Die Menschen hier nennt man „Tian Long Ren“ (天龍人). Sie haben keine Ahnung davon, wie hart das Leben vieler Taiwanerinnen und Taiwaner im kleinstädtischen und ländlichen Raum ist. Sie wissen nichts von ihnen, sie wollen nichts über sie wissen.
 

PinkChain hält ein Mikrofon in der Hand und rappt. Im Hintergrund stehen junge Menschen.

Rapper PinkChain bei einer Performance

Manchmal überkommt mich hier die Einsamkeit. Dann gehe ich hinaus in die Nacht. In einem Club wie dem Pipe, in dem ich letzte Nacht feiern war, finde ich eine Ersatzfamilie. Der Club ist in einem ehemaligen Pumpwerk. Im Hof gibt es einen großen Außenbereich mit verschiedenen Bars. Es ist dort viel entspannter als im Final, vielleicht sogar seine Antithese. 

Ich schaute mir Amazing Show (美秀集團) an, eine Indie-Band aus Chiayi, meiner Heimatstadt im Süden Taiwans. Sie spielten in dieser Nacht eine experimentelle Mischung aus melancholischem Indie-Rock mit Elementen von Folkmusic und Punk und entführten uns in eine Welt der Liebe und des Rausches. Warum ich das erwähne: Die Band ist Teil der Taiker Kultur (台客), die das taiwanische Lebensgefühl ausdrückt wie kaum etwas sonst.

Die geografische Isolation in einer politisch äußerst sensiblen Situation. Um sich von unserem übermächtigen Nachbarn abzugrenzen, identifizieren sich viele, grade junge Menschen als Tai (台). Sie kanalisieren ihre kollektive Identität durch die Musik sowie durch das popkulturelle Spiel mit historischen Zitaten und Symbolen. Lange war der Begriff abwertend gemeint, aber wir haben ihn uns angeeignet, ein „code-switch“. Eine Kultur, so sagte es mir der Gitarrist der Band nach dem Konzert, die tolerant und inklusiv sei, ein Echo unserer ethnischen Diversität: Ureinwohnerinnen und Ureinwohner, Hakka, Fujianesen und die vielen Zugewanderten aus Südostasien. In der Sojamilch-Bar war es nun bereits nach Sonnenaufgang und gleißend hell.

Im schummerigen Licht eines Clubs erkennt man einen DJ an seinem Pult. Der junge Mann schaut nach unten auf seine Regler, und trägt eine Lederjacke über dem nackten Oberkörper. Hinter ihm sind zwei Leuchtstoffröhren zu erkennen.

DJ Hypostomus legt im „Final“ elektronische Musikgenres wie Intelligent Dance Music (IDM) und Happycore auf. Er ist als Rapper Teil der YellowHippy-HipHop-Crew. 

Mein Date wirkte kleiner als auf seinem Porträtfoto auf Tinder, hatte aber eine gute Ausstrahlung, viel besser als der Durchschnitt der Jungs, die man normalerweise trifft. Ein überraschend angenehmes Frühstücksdate. Wir spazierten hinaus ins Licht und zu einem nahe gelegenen Park. Ich fragte ihn, auf was für Musik er stand, er fragte mich, welche Sorte Cannabis ich lieber mag, Indica oder Sativa?

Er kam aus Taipeh, lebte aber nicht mehr bei seinen Eltern, also gingen wir zu ihm. In einem Regal fand ich eine Sammlung von Fotomagazinen, eines davon gab ein Freund von ihm heraus.

„Weil es eigentlich immerzu regnet, erwarten Mädchen von Jungs, dass sie ihr eigenes Auto haben oder zumindest eins von ihren Eltern leihen können“

In einer Ecke lagen einige Vinyl-LPs, die er in Plattenläden in Berlin gekauft hatte. Es war fast Mittag, und langsam machte sich die Müdigkeit bemerkbar. Ich gähnte beiläufig, um zu signalisieren, dass wir langsam zum Ende kommen sollten.

Er sagte, es wäre okay, wenn ich bleiben wolle. Ich lehnte freundlich ab. Er hatte ein süßes Lächeln und war überhaupt nicht langweilig. Im Gegenteil, wir hatten viel gelacht. Also schlug ich vor, demnächst gemeinsam etwas zu unternehmen, etwa ins Kino oder ins Museum zu gehen. Wir einigten uns betont unverbindlich darauf, den neuen Film von Wes Anderson anzuschauen.

Er sagte, dass er mich abholen würde, da es seit Wochen regnete. Das muss man über das Daten in Taipeh wissen: Weil es eigentlich immerzu regnet, erwarten Mädchen von Jungs, dass sie ihr eigenes Auto haben oder zumindest eins von ihren Eltern leihen können. Oder sagen wir so, es wäre wünschenswert.

”Ich hatte nicht erwartet, dass wir die einfachsten, wunderschönsten Dinge teilen würden“

Wenn ein Junge einen Motorroller, etwa eine Vespa, besitzt, ist das aber auch okay. Es mag merkwürdig erscheinen, aber die Mädchen von Taipeh fahren fast immer nur mit der U-Bahn. Es kommt nicht selten vor, dass sie in ihrem ganzen Leben niemals selbst Motorroller oder auch nur Fahrrad fahren.

Wir trafen uns also wieder. Ich hatte von ihm zunächst das stereotype Bild eines oberflächlichen Typen aus dem Final, und ihm ging es mit mir genauso: Für ihn war ich einer dieser Hipster, die es nur auf Konzerten und in Secondhandläden aushalten. Je mehr Zeit wir miteinander verbrachten, desto mehr wurde mir klar, dass uns gerade unsere Unterschiede verbanden und einander näherkommen ließen.

Ich hatte nicht erwartet, dass wir die einfachsten, wunderschönsten Dinge teilen würden: dass wir in lauen Nächten, gemeinsam eine Flasche Wein trinkend, nach Hause spazieren und uns einen Film anschauen, ein oder zwei Runden Uno spielen, uns ermattet zusammengerollt auf der Couch von unseren Träumen erzählen und anschließend, Arm in Arm, in Schlaf versinken würden.
 

Eine junge Frau sitzt im Dämmerlicht draußen auf einem Sofa, hinter ihr sind Betonträger zu erkennen und weiter hinten beleuchtete Essenstände. Sie isst Chips und schaut müde in die Kamera. Neben ihr ist eine zweite junge Frau auf dem Sofa eingeschlafen.

DJ Cotton Disco (l.) nach einem Auftritt frühmorgens im Außenbereich des „Pipe“. Sie legt Underground-Musik gemischt mit Hits aus japanischen Zeichentrickfilmen auf. 

Ich bin 26 Jahre alt, schreibe seit Längerem an meiner Masterarbeit und jobbe nebenher. Ich bin finanziell von meinen Eltern abhängig, und das wissen sie natürlich auch. Sie sagen, ich solle nach meinem Abschluss zurück nach Chiayi ziehen, um mich dort auf das Examen für den Staatsdienst vorzubereiten. Oder, und das meinen sie nur halb im Spaß, ich könne mir ja in Taipeh einen Jungen zum Heiraten suchen und mit ihm eine Familie gründen. Die Vorstellung, Kinder zu kriegen, kommt mir absurd vor.

„Der Moment der Hingabe ist wie das Aufblühen eines Feuerwerks am Nachthimmel, aber er verschwindet ebenso plötzlich wieder“

Wie soll das gehen? Das Wochenende durchfeiern, beim Frühstück nach Alkohol und Zigaretten stinken und die Kinder morgens verkatert zur Schule bringen? Aber ernsthaft. Viele Taiwanerinnen und Taiwaner stellen sich diese Frage. Sie tun es auch, weil zumindest Taipeh wahnsinnig teuer ist: die niedrigen Löhne, die hohen Mieten und Hauspreise, der extreme ökonomische Druck. Wir haben in Taiwan die niedrigste Geburtenrate der Welt – und das nicht ohne Grund.

Davon abgesehen begann sich meine Affäre mit dem Jungen aus dem Final gut anzufühlen. Also, dachte ich, lass es einfach auf dich zukommen, gib der Geschichte keinen Namen, bezeichne es noch nicht als dies oder das. Doch tief in meinem Herzen hatte ich schon immer ein gutes Gespür dafür gehabt, wann eine Beziehung beginnt, wann aus dem ersten Funken etwas Ernsteres wird – aber nie, wirklich nie merke ich, wenn das Ganze zu scheitern beginnt.

Der Moment der Hingabe ist wie das Aufblühen eines Feuerwerks am Nachthimmel, aber er verschwindet ebenso plötzlich wieder. Er kommt und geht und ist kaum fassbar. Und nach dem Feuerwerk bleibt nur der Schmerz, so als verschluckte man sich zu lang auf nüchternen Magen.

承諾還是無法兌現
Noch immer gibt es kein Versprechen
我只能說人會變
Alles, was ich weiß, ist: Menschen verändern sich
你也不用覺得虧欠
Du musst dich nicht schuldig fühlen
你要愛誰我隨便
Es liegt an dir, mit wem du auf ein Date gehen willst (Amazing Show, „Roll-Cigg“)

Dann kam der Tag, an dem ich unvermittelt realisierte: Er ignoriert meine Nachrichten, kommentiert meine Insta-Stories nicht mehr, ist untergetaucht. Er ghosted mich. Ich verbrachte das Wochenende damit, Seifenopern zu schauen und Junkfood bei Uber Eats zu bestellen. Irgendwann zwang ich mich in eine erst vor Kurzem eröffnete Bar zu gehen, in der ein Freund von mir auflegte.

„Alles dreht sich in Taipeh im Kreis. So als hebe man am Ufer eines Sees einen Kieselstein auf, den man ein wenig in der Hand kreisen lässt, bis man seiner überdrüssig geworden ist“

Ich dachte, ich würde meine verlorene Affäre dort sicher nicht treffen. Doch dann drehte ich mich in der Menge um. Da stand er, der eine, von dem ich dachte, dass ich ihm mein Herz öffnen, dass sich mit ihm alles ändern könnte, mit dem sich die Tage, an denen wir Hand in Hand gingen, endlos anfühlten.

Ich versuchte ihn zu ignorieren. Ich hatte ihm schon zu viel preisgegeben, Seiten von mir, die nur er kannte und niemand sonst. Doch er schaute immer wieder zu mir. Er wirkte fast schüchtern. An diesem Abend fand ich heraus, dass er der Freund eines Freundes von mir war. Vielleicht würde eines Tages die Ex-Freundin seines besten Freundes die neue Freundin meines zukünftigen Ex werden.

Alles dreht sich in Taipeh im Kreis. So als hebe man am Ufer eines Sees einen Kieselstein auf, den man ein wenig in der Hand kreisen lässt, bis man seiner überdrüssig geworden ist. Man wirft ihn wieder ins Wasser. Beim Aufprall verursacht er kleine konzentrische Wellen, eine flüchtige Irritation auf dem spiegelglatten Wasser, dann sinkt er zum Boden des Sees und fügt sich dort zwischen den übrigen Steinen ein.

Ich erwiderte seinen Blick für einen kurzen Moment, eine Sekunde vielleicht. Seine Augen wirkten so ruhig wie die Oberfläche des Sees, völlig ausdruckslos und spiegelglatt.

Aus dem Englischen von Ruben Donsbach