Rohstoffe | Taiwan

Die Sandpiraten

Vor der taiwanischen Küste sind chinesische Frachter auf der Jagd nach einem der begehrtesten Rohstoffe der Welt. Das könnte nicht nur ein Problem für Taipeh werden, sondern auch für Peking

Ein Mann im leuchtend orangefarbenen Arbeitsanzug steht an Deck eines Schiffes und schaut zu einem Baggerschiff hinüber.

Wang Chung-Yong beobachtet ein Baggerschiff auf hoher See

„Wir fischen hier schon seit unserer Geburt, es ist eine Art Familienbetrieb“, sagt Kapitän Wang Chun-Yong, der seit 47 Jahren zur See fährt. Er, sein Vater, sein Onkel und sein Cousin haben sich ihr ganzes Leben lang auf die Fischerei als Einkommensquelle verlassen. Der hagere Mann hat Falten im Gesicht. Im Alter von 13 Jahren begann er auf dem Boot seines ältesten Onkels zu kochen, mit 25 wurde er Kapitän und fuhr nach Indonesien und durch den Indischen Ozean, um Thunfisch zu fangen.

Erst vor einem Jahrzehnt kehrte er in die Gewässer vor den taiwanischen Penghu-Inseln zurück, fünfzig Kilometer westlich der Hauptinsel, die er seit seiner Kindheit kennt. Dort gibt es die Japanische und die Spanische Makrele, für die die Fischer seiner Heimat seit jeher bekannt sind. Von Magong, der Hauptstadt der Penghu-Inseln, führt eine zwei- bis dreistündige Bootsfahrt in Richtung Südwesten zur Taiwan-Scholle, von den Fischern „Südliche Untiefe“ genannt.

Das Gewässer ist ein ausgedehntes Gebiet unter dem Meer, das sich in etwa auf der Mitte der umkämpften Taiwanstraße zwischen Taiwan und China befindet. Der seichteste Teil der Scholle ist nur acht bis neun Meter tief. Deshalb ist das Wasser hier wärmer als im Rest der durchschnittlich sechzig Meter tiefen Meeresenge. Das macht diesen Ort seit über einem Jahrhundert zu einem traditionellen Fanggebiet der Penghu-Fischer.

„Wenn wir hinausfahren, sind wir auf Leben oder Tod auf uns allein gestellt“

Wo tummeln sich die Fischschwärme? Wo befinden sich die Sandbänke? Wo die Felsen? Die Seeleute können diese Fragen im Schlaf beantworten, so vertraut ist ihnen das Gebiet. Doch seit einigen Jahren gibt es Probleme in der Südlichen Untiefe. Wang erzählt, dass die Fangmenge stetig abnimmt. Der Grund: Nicht nur immer mehr festlandchinesische Fischerboote dringen illegalerweise in die Gewässer der Taiwan-Scholle ein, sondern auch Hunderte oder sogar mehr als tausend große chinesische Baggerschiffe. Sie besetzen den Fischgrund, auf den die Fischer angewiesen sind, um Sand abzugraben.

„Das Gebiet der Sandpiraten ist riesig und über viele Seemeilen und Kilometer hinweg sieht man außer ihnen nichts anderes mehr. Es ist, als ob das Meer ihr Zuhause wäre“, sagt Fischer Wang. Die meisten chinesischen Baggerschiffe haben ihre Satellitenortungssysteme ausgeschaltet, sodass die taiwanischen Fischerboote sie nicht auf ihrem Radar sehen können. Letztere sind zudem vor allem abends unterwegs, wenn auf dem Meer keine gute Sicht herrscht. So kommt es regelmäßig zu Kollisionen zwischen taiwanischen Fischkuttern und chinesischen Baggerschiffen.

„Wenn wir hinausfahren, sind wir auf Leben oder Tod auf uns allein gestellt. Bei einem Zusammenstoß regeln wir die Sache selbst“, sagt Wang. „Würden wir Meldung erstatten, wäre die Küstenwache erst da, wenn alles längst ›eingeäschert‹ ist“, meint er. So sagt man auf Taiwanisch, sobald etwas zu spät ist. Sobald die Schiffe der Küstenwache auftauchen, ziehen sich die chinesischen Piraten in ihre Heimatgewässer zurück – ein Katz-und-Maus-Spiel.

„Wenn die Piraten zur chinesischen Küste zurückkehren, warten in den Häfen bereits Händlerinnen auf sie, die ihnen die kostbare Ware abnehmen, um sie zum Beispiel an Bauunternehmen weiterzuverkaufen“

Während die Boote der Fischer in der Regel nicht mehr als hundert Tonnen schwer sind, wiegen die chinesischen Baggerschiffe häufig einige Tausend oder sogar mehr als zehntausend Tonnen. Überschneiden sich die Routen der taiwanischen und der chinesischen Schiffe, weichen Letztere nicht aus. Es ist wie mit einer Garnele, die auf einen Wal trifft: Ihr bleibt nichts anderes übrig, als einen Umweg zu nehmen.

Doch was wollen die chinesischen Schiffe eigentlich mit dem Sand vom taiwanischen Meeresboden? Die Antwort ist einfach: Geld verdienen. Wenn die Piraten zur chinesischen Küste zurückkehren, warten in den Häfen bereits Händlerinnen auf sie, die ihnen die kostbare Ware abnehmen, um sie zum Beispiel an Bauunternehmen weiterzuverkaufen. In Chinas boomenden Metropolen, in denen die Wolkenkratzer in die Höhe schießen, ist Sand ein unverzichtbarer Rohstoff. So unverzichtbar, dass man für seine Beschaffung zum Raubbau greift und die verheerenden Folgen in Kauf nimmt.

Um vier Uhr morgens weht eine kühle Meeresbriese in Magong. Die Stadt auf den Penghu-Inseln ist noch in tiefem Schlummer versunken, aber der Fischmarkt ist bereits erwacht. Ausländische Arbeiter laufen am Pier hin und her, um den Fang des Tages zu entladen; an die hundert Händlerinnen und Angestellte des Marktes plaudern mit den Kapitänen und bieten auf die Ware, die fein säuberlich vor ihnen auf dem Boden ausgelegt ist. „5, 16, 0“. Fischer Wang geht in seinem Logbuch die sinkenden Fangzahlen der jüngsten Zeit durch.

„Wenn der Fischpreis zuletzt nicht etwas gestiegen wäre, hätte ich meinen Arbeitern nicht einmal ihren Lohn zahlen können“

Insgesamt verringern sich die Mengen immer weiter: „Wenn der Fischpreis zuletzt nicht etwas gestiegen wäre, hätte ich meinen Arbeitern nicht einmal ihren Lohn zahlen können“, betont er. Laut Statistiken des Amts für Landwirtschaft und Fischerei betrug die Fangmenge für Spanische Makrele im Jahr 2018, bevor die chinesischen Baggerschiffe in der Südlichen Untiefe auftauchten, 346 Tonnen. 2021 waren es nur noch 160 Tonnen.

Cheng Ming-Hsiu, der auf den Penghu-Inseln aufwuchs, ist inzwischen Geschäftsführer des Zentrums für Biodiversitätsforschung der Nationalen Akademie der Wissenschaften. Er erklärt, dass die Gewässer der Taiwan-Scholle durch den „Kuroshio“, eine Meeresströmung aus dem Südchinesischen Meer, gespeist werden. In Verbindung mit der niedrigen Wassertiefe und der Sonneneinstrahlung sorgt sie für eine vergleichsweise warme Wassertemperatur an der Taiwan-Scholle. Das macht die Gewässer zu einem geeigneten Habitat für Plankton, der Nahrungsgrundlage für Fische und Garnelen. Diese ziehen wiederum wirtschaftlich wertvolle Meerestiere wie Spanische Makrelen, Tintenfische und Weißlinge an, die zum Laichen herkommen.

„Hier Sand abzupumpen, ist so, als würde man einen Berg in Brand setzen und ihn abgraben“, sagt Biodiversitätforscher Cheng. Hsieh Heng-Yi, Direktor des Forschungszentrums für Meeresbiologie in Penghu sieht es ähnlich. Er hat den Sand an Bord eines chinesischen Frachters inspiziert und dabei festgestellt, dass es sich bei der Probe um terrestrischen Sand handelte, der normalerweise tief unter dem Meeresboden verborgen liegt.

„Für Taiwan sind die Folgen des Sandraubs verheerend“

Daraus zieht Hsieh den Schluss, dass der biogene Sand an der Oberfläche des Meeresbodens entfernt worden und der vor 18.000 Jahren an Land entstandene Sand zurückgeblieben ist. Er wurde bis zu einer Tiefe von zehn Metern abgetragen, was der Höhe eines zweistöckigen Hauses entspricht. Wie viel muss ein Schiff abpumpen, bevor Sand zum Vorschein kommt, der ursprünglich tief unter dem Meeresboden vergraben war?

In der Regel verbleiben die illegalen Bagger in einem bestimmten Gebiet und tragen Tag und Nacht den Meeresboden ab, während große Frachter zwischen ihnen und den Heimathäfen hin- und herfahren, um die Ladungen nach China zu transportieren. „Die Transportschiffe können täglich zwei bis drei Fahrten machen“, erklärt Cheng. Auf dem Weg zum Festland wird der Sand bereits gewaschen, um ihn für den Einsatz im Bau vorzubereiten. Die Käufer interessieren sich in der Regel nicht für die Herkunft der Ware. Viele ahnen zwar, dass sie aus Taiwan kommt. Doch aus ihrer Perspektive kehrt der Sand nur nach Hause zurück, denn: Die Volksrepublik betrachtet Taiwan als ihr Territorium.

Das Geschäft ist für die Piraten äußerst lukrativ: Für eine Tonne Sand bekommen sie durchschnittlich einen Euro – und ein kürzlich von der chinesischen Polizei beschlagnahmter Frachter hatte rund 73.000 Tonnen Sand geladen. Zudem haben die Piraten kaum Kosten: Sie zahlen keine Gebühren für den illegal abgepumpten Sand, und die Bagger, die sie verwenden, sind alt. Setzt die Küstenwache ein Schiff auf taiwanischem Staatsgebiet fest, hält sich der Schaden dementsprechend in Grenzen.

Für Taiwan sind die Folgen des Sandraubs allerdings verheerend. Nicht nur in ökologischer Hinsicht und mit Blick auf den Lebensunterhalt der Fischer, sondern auch, was den Alltag unbeteiligter Bürgerinnen und Bürger betrifft. Erst kürzlich haben die Baggerschiffe wieder ein unterseeisches Telekommunikationskabel beschädigt, das Taiwan und seine direkt vor der Küste Chinas gelegenen Matsu-Inseln verbindet.

„Um der Invasion der chinesischen Sand-Armada nachhaltig Einhalt zu bieten, bräuchte Taiwan Hilfe vom Festland“

Die Bewohner und Bewohnerinnen, Schulen und öffentlichen Einrichtungen verfügten daraufhin weder über Internet noch über stabile Telefonverbindungen. Nach Angaben des taiwanischen Telekommunikationskonzerns Chunghwa Telecom wurde das Unterseekabel seit 2017 bereits 27 Mal beschädigt, es musste seither für insgesamt 256,5 Millionen Taiwan-Dollar repariert werden, also für umgerechnet fast acht Millionen Euro.

Zwar hat die Intensität der Raubzüge während des Covid-Lockdowns nachgelassen, aber es ist zu erwarten, dass die Piraten zurückkehren werden. Um der Invasion der chinesischen Sand-Armada nachhaltig Einhalt zu bieten, bräuchte Taiwan Hilfe vom Festland. Denn der Hafen von Matsu ist zu klein, die Inseln verfügen nicht über ausreichende Kapazitäten, um die chinesischen Frachter auf dem Meer zu stoppen. Dass sich die Volksrepublik und Taiwan einigen, wird angesichts der geopolitischen Spannungen allerdings immer unwahrscheinlicher.

Dabei wäre es laut Meeresbiologe Cheng im Interesse beider Länder, die Piraterie zu bekämpfen. Denn unter einer Schädigung der Meeresumwelt leidet auf lange Sicht auch die chinesische Fischereiindustrie. Angesichts der Konflikte schwindet die Hoffnung, dass sich die Ökologie der Taiwan-Scholle in naher Zukunft erholen kann. Für die Fischer von Penghu ist es ein Wettlauf mit der Zeit. „Wenn die letzte Koralle gestorben ist, wird es zu spät sein, um die vom Menschen verursachten Schäden zu beseitigen“, sagt Hsieh Heng-Yi.

Diese Reportage wurde von den taiwanischen Journalisten Will Yang und Yian Lee verfasst und entstand in Zusammenarbeit mit The Reporter, Taiwans erster Non-Profit-Medienorganisation. The Reporter konzentriert sich auf ausführliche Reportagen und investigativen Journalismus und will den Aufbau einer vielfältigen modernen Gesellschaft und Medienlandschaft in Taiwan fördern.

Aus dem Chinesischen von Axel Kassing