Indigene Rechte | Norwegen

Windräder auf Sami-Land

Norwegen hat sich lange bemüht, die Volksgruppe der Sami zu assimilieren, auch gegen deren Willen. Die Aktivistin Ida Helene Benonisen kämpft heute für indigene Rechte – und holt sich damit auch die Kultur ihrer Vorfahren zurück
Junge Frau ist mit erhobener Faust in einer Menschenmenge, neben ihr Polizisten

Sami-Aktivistin Ida Helene Benonisen

Am 23. Februar 2023 betrat ich mit 18 anderen jungen Menschen das Erdöl- und Energieministerium in Oslo – und blieb. Wir hatten uns entschieden, das Gebäude zu besetzen. Wir wollten gegen die andauernden Menschenrechtsverletzungen protestieren, denen Sami-Rentier­hirtinnen und -hirten auf der Halbinsel Fosen vor der Küste von Trøndelag ausgesetzt sind.

Ich bin Sami. Und ich wurde assimiliert. Ich wuchs in einer Familie auf, in der man unser Erbe und unsere Geschichte gezwungenermaßen zum Geheimnis gemacht hatte. Als ich noch ein Kind war, weigerten sich meine Eltern, über unsere Herkunft zu sprechen. Erst mit Anfang zwanzig begann ich, das Schweigen infrage zu stellen.

Wir Sami sind die einzige offiziell anerkannte indigene Gruppe in der EU. Doch lange Zeit wurden wir diskriminiert. Über Jahrzehnte führte die norwegische Regierung eine regelrechte Assimilationspolitik durch, mit dem Ziel, unsere Kultur unsichtbar zu machen, ja, zu vernichten. Dazu dienten Internate, in die Sami-Kinder zur Umerziehung gesteckt wurden, brutale Umsiedlungsprojekte und strenge Vorschriften.

Diese Politik endete offiziell in den 1960er-Jahren, doch die vielen Jahrzehnte der Abwertung haben tiefe Narben in unserem kollektiven Gedächtnis hinterlassen. In meiner Familie führte dies zu einem bleibenden Gefühl von Scham, was unsere Herkunft anbelangt. Doch diese Scham sollte, so beschloss ich, mit mir enden. Ich wandte mich an ältere Familienmitglieder, die mit der Kultur verbunden geblieben waren. Sie reichten mir die Hand, versorgten mich mit Wissen über unsere Traditionen.

„Die Jahrzehnte der Abwertung haben Narben hinterlassen. In meiner Familie führte dies zu einem bleibenden Gefühl von Scham“

Für mich begann ein langer Weg des Zurückfindens, Verstehens, Trauerns, aber auch des Kämpfens für die Gemeinschaft, die mich in ihre Arme geschlossen hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich ein Gefühl der Zugehörigkeit. Seitdem kämpfe ich dafür, dass nicht noch mehr Sami zwangsassimiliert werden.

Doch zurück zu dem Tag im Februar 2023, an dem wir das Erdöl- und Energieministerium besetzten. Warum war ein so radikaler Schritt nötig? In den vergangenen zwanzig Jahren hat die norwegische Regierung gemeinsam mit internationalen Unternehmen, unter anderem den Stadtwerken München, mehr als 270 Windkraftanlagen in Fosen gebaut.

Erneuerbare Energien werden ja meist als etwas Positives gesehen. Doch diese Anlagen hat man illegal auf dem Land der dort lebenden Sami gebaut und es damit für die nächste Generation der Rentierhirtinnen und -hirten unbrauchbar gemacht. Wie eng die Kultur der Sami mit der Rentierzucht verbunden ist, zeigt sich in unserer Sprache, unserer Kleidung und unserer Philosophie. Gehen das Land und die Herden verloren, gefährdet das unsere gesamte Kultur.

Die betroffenen Sami-Familien haben unermüdlich gegen den Bau der Turbinen gekämpft und zogen bis vor den Obersten Gerichtshof in Norwegen. Und sie gewannen! Am 11. Oktober 2021 erging das Urteil, dass der Bau von zwei Windenergieanlagen auf Storheia und Roan die Zukunft der samischen Rentierzucht in Fosen gefährdet und gegen die Menschenrechte der dort lebenden Indigenen verstößt. Die Richter bezogen sich insbesondere auf Artikel 27 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen (ICCPR).

Die Freude über diesen Erfolg war groß. Aber 500 Tage nach dem Urteil, im Februar 2023, war noch immer nichts geschehen. Zwar hatte der Oberste Gerichtshof die Konzessionen für die Windkraftanlagen für ungültig erklärt, doch die Unternehmen ignorierten das. Die Anlagen liefen illegal weiter, wobei auch noch das Bild vermittelt wurde, man produziere grüne Energie.

Um diesem Unrecht ein Ende zu setzen, beschlossen ich und einige andere Sami-Aktivistinnen und -Aktivisten von der Umweltorganisation „Natur og Ungdom“ („Natur und Jugend“), das Ministerium zu besetzen.

Wir protestieren nicht gegen grüne, nachhaltige Energien. Nein, wir wehren uns gegen eine neue Form von Kolonialismus, die wir »Greenwashed Capitalism« nennen. Sami-Hirtinnen und -Hirten ihr Land zu stehlen, um darauf große, prestigeträchtige Anlagen zu bauen, ist nicht gut für die Umwelt.

„Sami-Hirten ihr Land zu stehlen, kann niemals grün sein. Auch nicht für Windkraft“

Weltweit wird immer öfter gewürdigt, dass indigenes Wissen zentral ist, wenn es darum geht, den Klimawandel zu bekämpfen. Mit Blick etwa auf Sami-Traditionen können wir lernen, das Land zu nutzen, ohne es zu zerstören. Nur genau so viel zu nehmen, wie wir brauchen, damit die Ökosysteme erhalten bleiben. Sami-Hirtinnen und Hirten ihr Land zu stehlen, kann niemals grün sein. Auch nicht für Windkraft.

Die Reaktion auf unseren Protest erfolgte prompt. Anstatt mit uns zu sprechen oder irgendeine Form von Verantwortung zu übernehmen, wurden alle Mitarbeitenden des Ministeriums ins Homeoffice geschickt. Man schloss die Türen ab, um uns den Zugang zu Lebensmitteln und Medikamenten zu verwehren und den Kontakt zur Presse. So sollten wir zum Aufgeben gezwungen werden. Doch wir blieben.

Vier Tage lang harrten wir in den Fluren des Ministeriums aus. Es waren ziemlich unschöne Stunden. Doch immer wenn ich aufgeben wollte, erinnerte ich mich daran, dass anderen Sami das Schicksal meiner Familie erspart bleiben sollte. Das war jeden Abend mein letzter Gedanke, bevor ich mich auf dem harten Boden des Ministeriums schlafen legte.

In der vierten Nacht wurde ich von einer Polizeieinheit geweckt. Die Beamten verhafteten uns in den frühen Morgenstunden, vermutlich damit die Öffentlichkeit möglichst wenig davon mitbekam. Aber schon im Morgengrauen wusste ganz Norwegen Bescheid. Die Ungerechtigkeit sowohl gegenüber den Sami von Fosen als auch uns jungen Menschen, die wir für die Rechte unseres Volkes demonstrierten, war offensichtlich.

Die Bilder, die in dieser Nacht gemacht wurden, setzten eine ganze Bewegung in Gang. In der folgenden Woche legten Aktivistinnen und Aktivisten zehn Ministerien lahm. Wir gaben nicht auf, bis der norwegische Premierminister Jonas Gahr Støre die Menschenrechtsverletzung eingestand und sich entschuldigte.

Mehrere junge Menschen liegen auf dem Boden, sie sind umrahmt von Transparenten, eines sagt "Land zurück"

Besetzung des Ministeriums

2023 wurde für alle Sami zu einem besonderen Jahr. So viele Menschen, junge wie alte, schlossen sich zusammen und traten gemeinsam für ihre Rechte ein. Nach einem Jahr der Demonstrationen unterzeichnete die Regierung ein Abkommen mit den Menschen, die im südlichen Teil von Fosen leben. Sie erhalten eine Entschädigung in Form von Land, finanzieller Unterstützung und Vetorechten.

Leider sieht die Situation für die Sami im Norden von Fosen ganz anders aus. Die dortigen Anlagen gehören internationalen Unternehmen wie den Stadtwerken München. Sie weigern sich bislang, ihre Anlagen rückzubauen oder die Menschen zu entschädigen.

Es bricht mir das Herz, wenn ich sehe, wie unsere Kultur langsam ausgelöscht wird. Unsere Ältesten haben uns jüngeren Aktivistinnen und Aktivisten beigebracht, wie man Druck auf die norwegische Regierung aufbaut. Dass wir heute unsere Rechte durchsetzen können, ist ihrem jahrzehntelangen Einsatz zu verdanken. Jetzt müssen wir lernen, wie wir international auf die Situation der Sami aufmerksam machen können.

Wir sind stolz auf unsere Kultur und auf unsere Lebensweise. Doch wenn uns unser Land genommen wird, steht unser Überleben auf dem Spiel.

Aus dem Englischen von Gundula Haage