„Kein Laut, bis auf den Wind“
Interview von Gundula Haage
Frau Davidson, im Jahr 1977 begaben Sie sich auf eine abenteuerliche Reise: 2.700 Kilometer zu Fuß von der Stadt Alice Springs in der Mitte Australiens bis an die Westküste, mit vier Kamelen und einem Hund als Begleitung. Kannten Sie sich damals gut aus in dieser kargen Landschaft?
Ehrlich gesagt überhaupt nicht. Ich war 25 Jahre alt und hatte nichts als sechs Dollar in der Tasche, als ich in Alice Springs ankam. Ich wusste nur, dass ich in die Wüste wollte, und zwar allein. Ich hatte gehört, dass es dort wilde Kamele gibt, und wollte ein paar davon fangen und als Transporttiere nutzen. Doch ich musste schnell feststellen, dass das nicht so einfach war wie gedacht. Ich musste mich erst mit der Wüste vertraut machen. Ich habe auf einer Kamelfarm angeheuert und mich zwei Jahre lang vorbereitet.
Wie haben Sie sich ansonsten auf die Reise vorbereitet?
Am längsten hat es gedauert, meine Kamele einzufangen, sie zu trainieren und zu verstehen. Ich musste lernen, mein eigenes Kamelgeschirr zu bauen, Lederriemen zu reparieren, geduldig zu sein. Und natürlich musste ich mir das nötige Wissen aneignen, um in der Wüste überleben zu können.
„Ich wollte die Wüste verstehen und mich in ihr verlieren“
Unglaublich viel haben mir Aborigines beigebracht: welche Buschpflanzen ich essen kann, wo ich Wasser finde, wie ich Fährten lese. Du musst Tierspuren folgen können, um Wasser zu finden. Als ich diese Zeichen deuten konnte, habe ich mich bereit gefühlt.
Viele nehmen die Wüste als bedrohlichen Ort wahr, an dem man hinter der nächsten Düne verdursten kann. Wie haben Ihre Freunde und Familie auf Ihr Reisevorhaben reagiert?
„Warum machst du so etwas Verrücktes?! Dort gibt es nichts als Schlangen! Was willst du im Nirgendwo?“ Das habe ich alles gehört. Aber für mich war nichts Beängstigendes dabei. Ich wollte die Wüste verstehen und mich in ihr verlieren. Es ging nie darum, besonders mutig zu sein oder irgendjemandem außer mir selbst etwas zu beweisen.
Aber ich wollte diese extreme Landschaft gut genug kennenlernen, um darin zu überleben. Ich hatte großes Glück, denn nach ein paar Monaten traf ich einen alten Aborigine-Mann, der aus einer Laune heraus beschloss, mich für einige Wochen zu begleiten. Er nannte sich Mr. Eddie.
Was ist Ihre einprägsamste Erinnerung an Mr. Eddie?
Mit ihm zu reisen, hat mir gezeigt, wie es ist, wirklich in der Welt zu Hause zu sein. Er fühlte sich existenziell verankert in seiner Umgebung. Wir sind auf den „Traumpfaden“ gewandert, die für die Aborigines eine unsichtbare, mythische Landkarte Australiens bilden und unter ihnen durch Lieder von Generation zu Generation weitergegeben werden.
Ich halte die Traumzeit für eines der großartigsten philosophischen Systeme überhaupt. Es geht dabei um die Verbindung von allem in einem universellen Sein. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen mystisch, dabei bin ich kein bisschen mystisch veranlagt. Aber ich finde nicht, dass das gegen die Idee spricht, sich mit allem, was einen umgibt, verbunden zu fühlen.
„Mit Mr. Eddie zu reisen hat mir gezeigt, wie es ist, wirklich in der Welt zu Hause zu sein. Er fühlte sich existenziell verankert in seiner Umgebung“
In Ihrem aktuellen Buch „Unfinished Woman“ schreiben Sie über Aborigines als Naturwissenschaftler par excellence. Wie meinen Sie das?
Ich möchte nicht verallgemeinern, denn natürlich gibt es große Unterschiede zwischen verschiedenen Aborigines in Australien. Und ich will auch nicht eine besondere Naturnähe romantisieren. Aber meiner Erfahrung nach messen viele Nomadenkulturen wie die Aborigines dem Wissen größeren Wert bei als der Anhäufung von Gütern. Denn sie müssen die eigene Umwelt verstehen, um zu überleben.
Gold bringt einen mitten im australischen Busch nicht weiter. Ob wir es wollen oder nicht: Wir sind in die Natur eingebettet. Darum sollte man besser respektvoll mit ihr umgehen. Wer das nicht tut, stirbt. Die Welt wäre bestimmt eine bessere, wenn alle Menschen sich gleichermaßen mit ihrer Umwelt verbunden fühlen würden. Leider stehen die gegenwärtig vorherrschenden Ideologien dem entgegen, von der Klimakrise ganz zu schweigen. Das Leid, das wir der Welt antun, ist kaum zu ertragen.
Hat Sie dieses Gefühl der Verbundenheit mit der Welt über Ihre Reise hinaus begleitet?
Nach über acht Monaten in der Wüste hat sich mein Gehirn verändert. Und das ist bis heute so. Es war völlig verrückt: Eine Woche, nachdem ich die australische Westküste erreicht hatte, flog ich nach New York.
Ich lief durch die Straßen und nahm alles um mich herum als geologische Strukturen wahr: Die Wolkenkratzer kamen mir wie Gebirgsmassive vor, durch deren Schluchten der Wind wehte. Es war, als wäre ich weiterhin mitten in einer Landschaft, nur wimmelte es da plötzlich von verrückten Primaten. Mir schien, als sei ich der letzte vernünftige Mensch auf Erden (lacht).
„Das Etikett ,Kamelfrau‘ hat mich immer gestört. Ich bin sogar bis nach London gezogen, um dem zu entkommen“
Als Sie den Indischen Ozean erreichten, waren Sie berühmt. Zeitungen auf der ganzen Welt schrieben über die „Kamelfrau“, denn der „National Geographic“-Fotograf Rick Smolan hatte Sie während der Reise besucht und ikonische Bilder von Ihnen gemacht. Wie lange haftete dieser Spitzname Ihnen an?
Aus dem Nichts heraus berühmt zu werden, ist sehr, sehr seltsam. Und es ist gefährlich, weil man sich in einem öffentlichen Mythos verlieren kann, in einer Erzählung, die nicht mehr die eigene ist. Das Etikett „Kamelfrau“ hat mich immer gestört.
Ich bin sogar bis nach London gezogen, um der Reduzierung darauf zu entkommen. Ich dachte, wenn ich ein Buch über meine Reise schreibe, werde ich danach in Ruhe gelassen. Aber das hat nicht geklappt.
Ihr Buch „Spuren“ wurde ein internationaler Bestseller und Jahre später mit Mia Wasikowska und Adam Driver in den Hauptrollen zu einem großen Hollywood-Film. Haben Sie das Gefühl, dass Sie trotz allem auch heute noch Ihre ganz eigenen Bilder von Ihrer Reise im Kopf haben?
Fotos sind kannibalisch. Sie fressen die eigenen Bilder. Aber ich bemühe mich sehr, einige meiner inneren Bilder zu behalten. Ich weiß noch genau, wie ich aufwache und sich der Sand bis zum Horizont ausbreitet, wie ich die Felsen unter mir spüre, meinen Hund und die vier Kamele neben mir.
Und ich weiß: Ja, das ist meine eigene Erinnerung. Damals habe ich mich immer wieder fürchterlich über Rick und seine Bilder geärgert. Der ganze Sinn meiner Reise bestand ja darin, das Subjekt meines eigenen Lebens zu sein.
Durch die Unterstützung von National Geographic konnte ich meine Reise zwar finanzieren, aber die ikonischen Fotos machten mich zum Objekt. Deshalb hatte ich immer ein ambivalentes Verhältnis zu ihnen. Heute ist mir das allerdings egal. Ich bin mittlerweile über siebzig. Ich kann mich einfach an der Schönheit dieser Bilder erfreuen.
Was erscheint heute vor Ihrem inneren Auge, wenn Sie an Ihre Wüstendurchquerung zurückdenken?
Die Textur der australischen Wüste hat sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt. Die Wüste ist unglaublich vielfältig und unvorstellbar alt – vielerorts besteht sie aus den Fundamenten von Gebirgen, die über Millionen von Jahren vom Wind abgetragen wurden. Es riecht dort nach trockenem Gras und Staub, es ist der Duft eines extrem trockenen Landes.
„Durch die Unterstützung von National Geographic konnte ich meine Reise zwar finanzieren, aber die berühmten Bilder des Fotografen machten mich zum Objekt“
Je tiefer man in die Wüste vordringt, desto stiller wird es. Wenn kein Oberflächenwasser mehr verfügbar ist, verschwinden die Tiere. Auf einmal hört man nichts mehr, keinen Laut, bis auf den Wind, der über die Felsen streicht.
Ihre Reise ist bald fünfzig Jahre her. Heute gibt es eine Tourismusindustrie rund um Kamelsafaris. Es werden Abenteuerpakete verkauft, mit endlosen Möglichkeiten, das perfekte Wüstenerlebnis instagramgerecht zu verwerten. Was halten Sie von dieser Art des Reisens?
Ich bin da zwiegespalten. Solange kein Schaden angerichtet wird, können die Leute von mir aus so viele Fotos von sich auf einem Kamel machen, wie sie wollen. Aber ich habe den Eindruck, dass es beim Reisen heute häufig um die Darstellung der eigenen Person geht, und weniger darum, sich selbst auf das Unbekannte einzulassen.
Erlebnisse werden konsumierbar verpackt und verkauft und die Überraschungen werden auf ein Minimum reduziert. Ich bezweifle, dass man dabei noch viel Neues über sich selbst oder die Welt um einen herum lernen kann. Andererseits habe ich viele, viele Jahre in Indien gelebt.
Ich weiß, dass einige Regionen auf die Einnahmen durch den Tourismus angewiesen sind. Darum: Wenn jemand seine Ferien nutzen möchte, um ein wenig Sand zu sehen und Geld für eine romantische Erfahrung in der Wüste bezahlt, dann ist das doch völlig in Ordnung, solange die Menschen vor Ort davon profitieren.
Sie sind immer wieder in verschiedene Wüsten der Welt gereist und haben Bücher darüber geschrieben. Was fasziniert Sie an diesen Landschaften so sehr?
Wüsten sind leerer als die meisten anderen Orte. Sie lassen Platz zum Träumen und Nachdenken, ohne dass man von all dem Unsinn um einen herum abgelenkt wird. Außerdem interessiere ich mich sehr für nomadisch lebende Menschen. Ich bin mit Rabari-Nomaden in Rajasthan gereist und habe Hirten in der tibetischen Hochebene begleitet.
Ich habe außergewöhnliche Menschen getroffen und viel über ihre Sicht auf die Welt gelernt. Nomaden leben oft im Einklang mit der Natur. Doch wo auch immer man hinschaut, versuchen Regierungen, sie zu kontrollieren und zur Sesshaftigkeit zu zwingen. Wüsten sind meistens die letzten Orte, an denen Nomaden einigermaßen frei leben können.
Eines Ihrer Bücher heißt „Travelling Light“, also Reisen mit leichtem Gepäck. Welchen einen Gegenstand sollte man auf jeden Fall mitnehmen, wenn man in die Wüste aufbricht?
Auf meinen eigenen Reisen habe ich gelernt, alles wegzuwerfen, was nicht unbedingt notwendig ist. Als ich Australien durchquerte, hatte ich am Ende nur noch einen alten, zerschlissenen Sarong, einen Pullover und ein Paar Sandalen, die ich immer wieder geflickt habe.
Aber was ich jedem, der eine lange Reise unternimmt, raten würde: Pack einen absolut unnötigen, aber wunderschönen Gegenstand ein! Es sollte etwas Zerbrechliches, Exquisites sein, auf das man gut aufpassen muss.