„Aussagen werden permanent verdreht“
Haben wir verlernt zu streiten? Der Rassismusforscher Ibram x. Kendi über polarisierte Debatten, persönliche Anfeindungen und eigene Vorurteile. Ein Gespräch
Herr Kendi, Sie sprechen immer wieder davon, dass es in der Gesellschaft eine riesige Kluft zwischen den Mächtigen und den Machtlosen gibt – und dass Rassismus, Sexismus und Homophobie sich wie ein langer roter Faden durch die amerikanische Geschichte ziehen. Wie erleben Sie die Debatte um diese Themen derzeit?
Einige fangen jetzt an, die Bigotterie mit deutlicheren Worten zu thematisieren. Sie differenzieren genauer und haben den historischen Kontext im Blick. Andere verschanzen sich jedoch noch mehr in ihrer Abwehrhaltung und leugnen, dass Rassismus und Sexismus und andere Formen der Beschränktheit überhaupt ein massives Problem sind. Wir bewegen uns derzeit in beide Richtungen.
Was halten Sie von Kampagnen, die zum Boykott oder zum „Canceln“ bestimmter Personen aufrufen? Wird der gesellschaftliche Dialog durch diese Art des Onlineaktivismus gestört?
Ich finde auf jeden Fall, dass mehr Menschen für das, was sie tun und sagen, zur Verantwortung gezogen werden. Und manche Leute wollen keine Rechenschaft ablegen. Sie wollen einfach tun und sagen dürfen, was ihnen passt. Die Zeiten haben sich aber definitiv geändert, und sich aus der Verantwortung zu stehlen, ist künftig keine Option mehr.
Aber trägt die zunehmende Polarisierung in den Debatten nicht dazu bei, dass die Differenzen irgendwann unüberbrückbar werden?
Die einen sehen den Rassismus als Grundproblem; andere halten den Antirassismus für das Übel. Letztere sind oft auch der Meinung, dass Weiße die Hauptleidtragenden von Rassismus sind. Sie leugnen alle Fakten, die darauf hindeuten, dass sich Weiße fast überall, wo es in der Gesellschaft Ungleichheit aufgrund von Rassismus gibt, in einer privilegierten Position befinden.
Sie picken sich Einzelbeispiele von Weißen heraus, die vielleicht schlechte Erfahrungen gemacht haben, und wollen damit belegen, dass sie die Opfer sind. Dieses Narrativ ist aber nicht neu. Im Gegenteil: Dass die Weißen die Leidtragenden sind, ist eine der ältesten Ideen der White Supremacy. Organisationen in diesem Bereich behaupten das seit Jahrzehnten. Und viele Menschen merken gar nicht, dass die Vorstellung, die Weißen wären die „Überlegenen“, inzwischen wieder in den Mainstream vorgedrungen ist.
Viele Debatten werden derzeit sehr emotional geführt. Welchen Einfluss hat das auf die politische Diskussion?
Einerseits kann man sagen, dass es sehr emotional zugeht, andererseits jedoch auch dagegenhalten, dass sehr viel auf dem Spiel steht. Und dass wichtige Themen leidenschaftlich diskutiert werden, ist meiner Meinung nach unvermeidlich.
In Ihrem Bestseller „Antirassistisch handeln“ richten Sie den Blick auf sich selbst und Ihre eigenen rassistischen Denkweisen. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Die Erkenntnis, dass ich mich bei dem Thema nicht ausklammern kann, kam mir, als ich definiert habe, was rassistisches Denken ist: nämlich ein Denken, das postuliert, dass eine bestimmte ethnische Gruppe einer anderen ethnischen Gruppe über- oder unterlegen ist. Nachdem ich das aufgeschrieben hatte, merkte ich, dass ich solche Gedanken auch selbst schon ausformuliert hatte. Zum Beispiel, wenn ich davon sprach, dass die Schwarze Jugend gefährlich oder träge sei. Immer wieder wandte ich dieses Denken nicht nur auf die Geschichte und auf andere Menschen, sondern auch auf mich selbst an. Dabei stimmte mit mir und den Menschen um mich herum alles – nur mit meiner Denkweise eben nicht.
Würde es unserer Debattenkultur helfen, wenn sich mehr Menschen ihren eigenen Vorurteilen stellen würden?
Wie sollen wir Veränderung und Transformation bewirken, eine antirassistische Politik unterstützen und eine gerechtere Welt schaffen, wenn wir unseren Blick nicht auf uns selbst richten, unser eigenes Verhalten nicht hinterfragen und nicht zugeben, wenn wir rassistische Gedanken äußern? Rassistische Denkweisen führen dazu, dass wir glauben, die Menschen wären das Problem und nicht die Machtverhältnisse und die Politik.
Heißt das auch, dass wir anderen ihre Schwachstellen aufzeigen sollten?
Wir können anderen Menschen bestimmt helfen, aber letztlich kommt es darauf an, dass die Leute ihre eigenen Schwachstellen erkennen. Diesen Prozess müssen sie selbst in Gang setzen. Wir können ihnen Dinge bewusst machen, wir können ihnen Brillen geben, aber durchschauen müssen sie am Ende selbst.
Ihr Buch löste in den USA und anderswo hitzige Kontroversen aus. Haben die heftigen emotionalen Reaktionen Sie überrascht?
Ich hatte keine Ahnung, was dieses Buch auslösen würde. Ich war einfach froh, als es herauskam. Damals kämpfte ich gegen eine Krebserkrankung und wusste nicht, ob ich das Erscheinen meines Buches noch erleben würde. Die leidenschaftlichen Reaktionen zu bekommen, war eine faszinierende und auch überraschende Erfahrung.
Im Zuge der jüngsten rechten Gegenbewegung gegen die Critical Race Theory sind Sie zur Zielscheibe geworden. Wie haben die heftigen Angriffe Sie und Ihre Arbeit beeinflusst?
Dass die eigenen Aussagen permanent verdreht werden, ist belastend. Einige Leute haben das verzerrte Bild, das von meinen Standpunkten gezeichnet wurde, als Grundlage für ihre Kritik verwendet. Andere haben mich direkt persönlich angegriffen, ohne sich mit meiner Arbeit auseinanderzusetzen. Mir wurden Überzeugungen unterstellt, die ich gar nicht vertrete. Das ist natürlich eine schwierige Situation. Aber letztlich können die Leute in meinen Büchern nachlesen, welche Einstellung ich habe, und sich ein Bild von den Fakten machen, die ich recherchiert habe und auf die sich meine Meinung stützt.
Wie würden Sie Kindern und jungen Menschen vermitteln, dass sie es besser machen können als wir, wenn es um den Diskussionsstil und die Aufgeschlossenheit für andere Positionen geht?
Ich würde ihnen sagen, dass sie einander anschauen und erkennen sollen, dass nicht sie das Problem sind. Die Herausforderungen in unserer Gesellschaft sind das Ergebnis falscher Regeln. Diese falschen Regeln und die falsche Politik müssen wir als solche erkennen und ändern, damit wir alle ein glückliches Leben bis ans Ende unserer Tage führen können.
Das Interview führte Jess Smee
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld