„Ich fragte: Wo wohnst du?“
In Peking wohnen Menschen mit wenig Einkommen in Kellern unter der Stadt. Die Fotografin Sim Chi Yin hat einige von ihnen in ihrer Arbeit „The Rat Tribe“ porträtiert. Ein Gespräch
Interview von Timo Berger
Wie kamen Sie darauf, die Menschen, die in Peking in Kellern leben, zu fotografieren?
2007 zog ich als Auslandskorrespondentin der „Straits Times“ nach China. Auf die Keller stieß ich zufällig. Jemand erzählte mir, er betreibe einen Keller, in den kleine Zimmer eingebaut sind. Ich war sofort fasziniert: Unter unseren Füßen gibt es ein fremdes Universum. Von 2011 bis ungefähr 2015 habe ich diese Menschen porträtiert.
Wer sind die Menschen auf den Fotos und wie haben Sie sie gefunden?
Sie sind Wanderarbeitende aus ärmeren Gegenden Chinas, das Rückgrat der Serviceindustrie in Peking: Leute, die Läden betreiben, Kellnerinnen, Friseure. Häufig fand ich sie, wenn ich im Restaurant saß oder mir die Haare schneiden ließ. Ich fragte: „Wo wohnst du?“ Meist war die Antwort: „Ich lebe im Keller.“ Ich habe mich dann selbst eingeladen, um sie zu fotografieren.
Warum haben Sie die Fotos gemacht?
Mein Ziel war es, diese Menschen, die in Peking „shuzu“ („Rattenvolk“) genannt werden, sichtbar zu machen. Ich wollte zeigen, dass sie nicht anders sind als die Menschen, die über der Erde leben. Wenn man ihnen auf der Straße begegnet, sieht man ihnen nicht an, wo sie wohnen.
Was sind das für Keller, in denen sie leben?
Da sind zum einen Bunker, die vom Verteidigungsministerium gebaut wurden. Man findet sie unter Sozialbauten, Geschäftshäusern und Gebäuden mit Eigentumswohnungen. In den 1950er-Jahren musste in Peking jedes Haus einen solchen Keller haben, weil Mao Angst vor einem Atomangriff der Sowjetunion hatte.
Wie kam es, dass dort Menschen einzogen?
In den 1990er-Jahren erlebte Peking einen Boom und viele Menschen zogen in die Stadt. Wohnungen fehlten, deshalb ließ die Stadtregierung die Räume als Wohnraum zu. Sie vermietete sie an Privatleute, die sie oft an Migrantinnen und Migranten weitervermietete.
Wie kann man sich diese Keller vorstellen?
Manche sind bis zu vier Stockwerke tief, liegen also bis zu zehn Meter unter der Erde. Die Gänge sind lang und eng, wie in einem Labyrinth. Im Winter ist es warm dort unten, weil Heizungsrohre durch die Räume verlaufen. Aber es ist sehr feucht. In manchen Kellern gibt es 150 oder 200 Zimmer. Den kleinsten Raum, den ich je gesehen habe, konnte ich nicht fotografieren, weil der Mann, der dort wohnte, sich so schämte. Der Raum lag unter einer Treppe, nur ein Bett und ein kleiner Schreibtisch standen darin.
Hat das Leben im Keller der Gesundheit der Menschen geschadet?
Vielen, mit denen ich sprach, machte das Leben in der Großstadt Angst, deshalb versteckten sie sich in dieser Untergrundwelt. Dort fühlten sie sich aber sehr isoliert. Auch der Mangel an Sonnenlicht war sicher nicht gut für ihre Psyche.
Warum leben die von Ihnen fotografierten Menschen heute nicht mehr dort?
Es ist mittlerweile verboten, in den Kellern zu wohnen. 2015 kamen Polizisten, um sie zu schließen. Einige dieser Leute sagten mir damals Bescheid: Ich sollte sehen, wie sie um ihre Wohnungen und um eine Entschädigung kämpften.
Die Presse berichtet bis heute, dass chinesische Behörden Keller dieser Art auflösen. Warum tun sie das?
Zum einen aus Sicherheitsbedenken. Bei einem starken Unwetter 2012 starben zwei oder drei Menschen an Stromschlägen, weil ihre Keller überflutet wurden. Ich glaube aber, es gab seitens der Regierung auch Bestrebungen, die Zahl der Wanderarbeitenden in Peking zu reduzieren. Das erreicht man auch, wenn man ihnen den Wohnraum wegnimmt. Dann gehen sie.
Aus dem Englischen von Caroline Härdter