Medien | Diversität

Kritikfähig

In vielen Literaturverlagen war Diversität lange kein Thema, jetzt wollen plötzlich alle Vielfalt. Über eine Branche im Wandel

Ein schwarz weiß Porträtfoto von Sharmaine Lovegrove. Sie hat dunkles kurzes Haar. Sie lächelt.

Die Verlegerin Sharmaine Lovegrove

Ich bin in einem multikulturellen Universum im Zentrum von London aufgewachsen, in dem die Bücher unterschiedlichster Autorinnen und Autoren gelesen wurden. Als ich 16 Jahre alt war, fing ich an, Bücher zu verkaufen, und ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass es in dieser Branche ein Rassismusproblem gibt. Erst als ich 2009 meine eigene Buchhandlung eröffnete, fiel mir auf, wie wenig zeitgenössische Literatur von People of Color, Angehörigen von Randgruppen oder Minderheiten die Verlagsprogramme enthielten.

2016 las ich dann in der Zeitschrift „Bookseller“, dass von den 160.000 Büchern, die in jenem Jahr im Vereinigten Königreich veröffentlicht wurden, weniger als hundert von einer Person of Color verfasst waren, darunter nur ein einziges Debüt von einem Schwarzen Autor. Da wurde mir das Ausmaß des Problems erst richtig bewusst. Kurz darauf schlug ich Charlie King, dem Verlagsleiter von Little, Brown Book vor, ein Imprint zu gründen, das sich auf Inklusion konzentriert. Er sagte sofort zu.

Als wir dann mit Dialogue Books starteten, erklärten mir die Leute ganz offen, dass Bücher von People of Color einfach nicht funktionieren würden. Diese Form des Rassismus war damals so normal, dass sie nicht einmal als solche auffiel. Inzwischen sind wir zwar etwas weiter, doch die Diversität in der Verlagswelt wird nicht unbedingt dadurch gefördert, dass Weiße, wenn auch oftmals in guter Absicht, ständig ihr Weißsein betonen. Sie sagen, sie könnten aufgrund ihrer unbewussten Voreingenommenheit und der Tatsache, dass sie nicht dieselben Erfahrungen gemacht haben, keine Entscheidungen über Bücher von People of Color treffen.

„Nur weil jemand einer Minderheit angehört, heißt das nicht unbedingt, dass sie oder er recht hat“

Sie versuchen, „woke“ zu sein – aber das ändert wenig an der Situation. Ja, es kommen mehr Bücher von Randgruppen und Minderheiten auf den Markt, aber das wird oft als Trend, als Experiment gesehen, oder Verlage tragen diese Veröffentlichenungen wie ein moralisches Banner vor sich her. Das verhindert letztlich Fortschritt: Denn eine Normalisierung der Inklusion findet so nicht wirklich statt. Die Sprache, die Verlagsleute benutzen, hat sich geändert, die Realität nicht. 

Die Probleme liegen auf der Hand. Wenn man sich die Zusammensetzung der Verlagsbranche ansieht, wurde das Ziel, das sich die Publishers Association 2017 mit ihrem „Inclusivity Action Plan“ gesetzt hatte, nämlich einen Frauenanteil von fünfzig Prozent in Führungspositionen zu erreichen, bis 2021 sogar übertroffen. Jenes, bei Menschen mit unterschiedlicher Herkunft auf 15 Prozent zu kommen, hat man bislang verfehlt.

Die mangelnde Präsenz von Minderheiten im Verlagswesen betrifft sämtliche Kategorien, von der Inklusion von Menschen mit neurologischen Auffälligkeiten wie ADHS oder Autismus, über die soziale und ethnische Herkunft bis hin zur Geschlechtervielfalt und sexuellen Orientierung. Letztendlich gehören so viele von uns einer Minderheit oder einer Randgruppe an, dass wir insgesamt wahrscheinlich die Mehrheit sind.

Trotzdem bleibt ein großer Teil der Gesellschaft ausgeschlossen. Mitunter mangelt es bei den Diskussionen zu dem Thema auch an Differenzierung. Oft höre ich, wie Leute sagen, du bist Schwarz, oder du bist schwul, du musst da doch Bescheid wissen. Aber nur weil jemand einer Minderheit angehört, heißt das nicht unbedingt, dass sie oder er recht hat.

„Mit meinem Verlag möchte ich die Praxis der Inklusion mit der Suche nach großen Talenten verbinden“

Antirassistische Bücher können deshalb auch Leute schreiben, die nicht über „race“ promoviert, die nicht Soziologie oder Anthropologie studiert haben, sondern sich beispielsweise meinungsstark als Blogger äußern. Es ist großartig, dass immer mehr Menschen eine Stimme bekommen. Aber meine Aufgabe als Verlegerin ist es, übergreifende Fragen zu stellen: Welche gesellschaftliche Bedeutung haben bestimmte Entwicklungen und Narrative? Welche Relevanz haben sie für das Leben unserer Leserinnen und Leser? Über welche Erfahrungen sollen wir berichten? Darin liegt eine große Verantwortung. Bei aller Aufgeschlossenheit für unterschiedliche Meinungen sollten wir uns die Fähigkeit zur nuancierten Kritik erhalten.

Und wir dürfen unsere Ansprüche nicht herunterschrauben. Wenn man Schwarz ist, wird einem von klein auf gesagt, dass man doppelt so hart arbeiten muss, um nur halb so weit zu kommen. Doch inzwischen scheint es mir oft so, als würde das Verlagswesen in dem Bestreben, sich zu öffnen, die Messlatte für Schwarze Autorinnen und Autoren immer niedriger legen. Das muss nicht sein. Es gibt keinen guten Grund, Mittelmäßigkeit anzustreben. Mit meinem Verlag möchte ich die Praxis der Inklusion mit der Suche nach großen Talenten verbinden.

Das Problem der Vielfalt und Integration ist aber noch nicht einmal annähernd gelöst. Was mir inzwischen ebenso große Sorgen macht, ist die Verunsicherung der Weißen. Verlagsleute haben so viel Angst davor, „gecancelt“ zu werden, dass sie deshalb womöglich hier und da auch ein Werk mit großem Potenzial ablehnen. Die digitalen Wellen der Empörung, die durch das Internet rauschen, tragen nämlich teils zu einer Sensibilisierung bei und teils zu einer Polarisierung. Für die Zukunft bin ich zwar weiterhin optimistisch. Damit ein wirkliches Umdenken stattfinden kann, muss sich allerdings noch einiges an den Strukturen im Verlagswesen ändern. 

Protokolliert von Jess Smee

Aus dem Englischen von Claudia Kotte