Alles ganz piano
In der Musik steht Verzicht auf Opulenz oftmals für Erneuerung und Aufbruch. Selten war weniger so viel mehr als in den neun Klavierstücken, die der Musiker und Komponist Malakoff Kowalski in einer Playlist für uns zusammengestellt hat
„Goldberg Variations, BWV 988: Var. 25 a 2 Clav.“ von Johann Sebastian Bach, gespielt von Igor Levit
Vor ein paar Tagen schrieb mir eine Freundin aus Wien: „Was machst du, wenn du dich selbst nicht ausstehen kannst?“ Ich habe ihr dieses Stück geschickt. Wenn ich diese Musik höre, wird alles eins. Alles löst sich auf und kommt ins Gleichgewicht. Musik wie ein klarer Sternenhimmel. In größter Sparsamkeit komponiert, schafft es Bach die ganzen Widersprüche, in denen wir leben, die Grausamkeit und das Glück dieser Welt, alles, was zu viel oder zu wenig zu sein scheint, ins richtige Verhältnis zu setzen. Mit dieser Musik halte ich sogar mich selbst aus.
„Wiegenlied op. 16, Nr. 1“ von Peter Tschaikowski, arrangiert für Klavier von Sergei Rachmaninoff, gespielt von Zlata Chochieva
Wiegenlieder leben davon, ein Kind mit einer einfachen, berührenden Melodie zu beruhigen und in den Schlaf zu bringen. Ähnlich wie eine Volksweise ist ein Wiegenlied nur selten auf einen Urheber zurückzuführen. Es überlebt durch seine universelle Einfachheit, und selbst die unmusikalischsten Leute können es nachpfeifen oder singen. Jeder trägt es allerdings auf seine ganz eigene Art vor – denn weder lässt sich auf eine Urform noch auf eine Notation zurückgreifen. Was passiert, wenn ein Genie wie Tschaikowski sich an ein Wiegenlied für Klavier und Gesang wagt und dieses dann von einem weiteren Genie wie Rachmaninoff für Soloklavier neu arrangiert wird, und was dabei für ein verspieltes, opulentes, dunkles und in keiner Weise schlicht-reduziertes Stück entstehen kann – das alles zeigt, wie nah sich Kind- und Erwachsensein am Ende werden können.
„Von fremden Ländern und Menschen“ von Johanna Summer, frei nach Robert Schumann
„Von fremden Ländern und Menschen“ ist neben der „Träumerei“ eines der bekanntesten Stücke aus Robert Schumanns berühmtem Klavierzyklus „Kinderszenen“. Ein Thema, so einfach wie die sich wiederholende Melodie einer Kinderspieluhr. Auf Grundlage dieses Überhits von 1838 improvisiert die Jazzpianistin Johanna Summer heute im 21. Jahrhundert vollkommen frei, und es kommen hierbei die aufregendsten, schönsten Dinge heraus, wie sie nur im Jazz möglich sind.
„Summer of ’42“ von Michel Legrand, gespielt von Chilly Gonzales
Das musikalische Thema des Films „Summer of ’42“ von Robert Mulligan aus dem Jahr 1971 ist eines der größten Meisterwerke des Komponisten Michel Legrand. Ich liebe ihn für seine Filmmusiken wie kaum einen anderen. Vieles von dem, was ich in meinen eigenen Filmmusiken und auf meinen Soloalben mache, hat mit ihm zu tun. Wie der Pianist Chilly Gonzales diese epische, orchestrale Großmusik bis auf ihr nacktes Skelett dekonstruiert und sie dann mit einer Neubearbeitung in seinen eigenen, unverkennbaren Stil überführt, hätte Michel Legrand mitten in sein bewegtes Herz getroffen.
„Piano Aphorisms“ von Malakoff Kowalski
Es ist immer sinnvoll zu betrachten, wer es ist, der sich zu diesem und jenem äußert. Mein heutiges Verständnis von Verzicht in der Musik ist im ersten Satz meiner »Piano Aphorisms« recht gut zusammengefasst: eine Sonate in vier Sätzen – eine Großform im Gegensatz zu den lakonischen Miniaturen aus meinen letzten Jahren. Eruptiv und dissonant baut sich die Musik rhapsodisch über 34 Minuten auf. Der erste Satz allerdings – anders als der zweite, dritte und vierte – nimmt sich sehr zurück, und in ihm sind die Pausen zwischen den angeschlagenen Tasten, die ungeschmückten Einzelnoten, die Leerstellen und das Ausklingen der eigentliche Raum, der bespielt wird.
„The Old Chapel by Moonlight, Op. 106“ von Amy Beach, gespielt von Kirsten Johnson
Eine Komposition wie ein Text fast ohne Verben. Eine Aneinanderreihung fast nur von Akkorden. Einzeltöne wie Seufzer als Verbindungsglieder. Kaum eine Melodieführung im engeren Sinne und doch eine bestechende Klarheit in erkennbaren Motiven. Aus dem Jahr 1924. Aus einer Zeit, als eine große amerikanische Komponistin wie Amy Beach nur unter dem Pseudonym „Mrs. H. H. A. Beach“ veröffentlichen durfte: „H. H. A.“ waren die Initialen ihres Ehemannes Dr. Henry Harris Aubrey Beach.
„All Numbers End“ von Nils Frahm
2021 erschien ein Album von Nils Frahm mit unveröffentlichten Klavierstücken aus den vergangenen Jahren. »All Numbers End« ist das kürzeste von allen, und es ist mir ein Rätsel, wie es jemandem gelingen kann, so viel Schönheit, so viel Essenz, so viel Bedeutung und so viel Musik in ein winziges Charakterstück zu gießen. Es gibt keine Wiederholungen; mit fast jedem Ton, jeder Wendung folgt ein neuer Gedanke. Jeder Moment spricht Dinge aus, für die es keine Worte gibt. Eine Minute und 35 Sekunden kosmisches Glück.
„Für Alina“ von Arvo Pärt, gespielt von Alexander Malter
Nehmen wir das minimale, moderne Komponieren am Klavier wirklich ernst, dann geht dies in Wirklichkeit nur mit Arvo Pärt und seiner wegweisenden Studie »Für Alina« aus dem Jahr 1976. Nach acht Jahren künstlerischer Krise findet er in diesem Stück eine neue Kompositionstechnik, die er „Tintinnabuli“ nennt, wörtlich übersetzt: „Glöckchen“. Die wenigen Töne, die es überhaupt zu spielen und zu hören gibt, sind in größter Ordnung organisiert. Ein Tempo existiert kaum. Es ist auf den ersten Blick möglich, diese Musik als meditativ zu begreifen, als beruhigend, aber das wäre eine Täuschung. Die Melodie, das Thema, die Motive, die Module spielen fortwährend mit der Erwartung einer harmonischen Auflösung, die immer wieder verwehrt wird. Zum Ende aller Figuren hin werden der erlösende letzte Ton, die auflösende Harmonie einfach nie geliefert, obwohl sie immer wieder zum Greifen nah scheinen. Irres Zeug, traumhaft gut. Man kann den Verstand verlieren dabei und trotzdem mit sich selbst und diesen kreisenden Tönen übereinstimmen. Die Aufnahme aus dem Jahr 1995 ist von Pärt autorisiert und wurde 1999 auf ECM veröffentlicht. Achtung: Wenn dieser Titel läuft, entsteht oft der Eindruck, jemand hätte aus Versehen auf „Pause“ gedrückt.
„Oktober. Herbstlied“ von Peter Tschaikowski, gespielt von Khatia Buniatishvili
Glaubt man an Gott, dann stammt diese Musik direkt von ihm. Ist man Atheist, Agnostiker oder sonst was, sollte man seine Zweifel kurz zurückstellen und sich für etwa fünf Minuten vorstellen, dass es Gott eben doch geben könnte und dass göttliche Musik in etwa so klingen müsste wie der „Oktober“ aus Tschaikowskis „Jahreszeiten“-Zyklus. Es gibt so vieles, was hier nicht passiert. Der Verzicht auf ein „Mehr“ ist in jedem Takt spürbar, es gibt keinen Ton, der sich streichen ließe, ohne dass alles in sich zusammenfiele. Auf YouTube gibt es eine schwarz-weiße Fernsehaufnahme von Lev Oborin aus dem Jahr 1971, die mir noch schöner vorkommt als die zeitgenössische Einspielung von Khatia Buniatishvili, aber leider wurde dieser Fernsehauftritt – soweit ich weiß – nie als Tonträger veröffentlicht. Während ich diese Gedanken notiere, höre ich das Ende von „Oktober“, und es fällt mir wieder ein, dass ich dieses Ende in dem Stück »Noma« auf meinem vorletzten Album „Onomatopoetika“ zitiert habe. Völlig vergessen. So vergeht die Zeit, und alles kommt doch wieder zurück ...