„Man muss vergeben lernen“

ein Gespräch mit Alan Johnston

Treffen sich zwei. Westen und Islam (Ausgabe II/2009)


Alan Johnston: Íngrid, gab es einen Moment, in dem Ihnen bewusst wurde, wie ernst die Situation war, dass Sie viele Jahre gefangen sein würden?

Íngrid Betancourt: Ja, es war wie eine Tür, die hinter mir zufiel. Zuerst dachte ich, es könnte drei Monate dauern. Nach dem ersten Jahr dachte ich: „Das wird eine lange und schwere Zeit.“ Aber ich hätte nie gedacht, dass es sechs Jahre werden würden.

Bei mir waren es nur vier Monate. Ich fühlte mich, als wäre ich lebendig begraben. Ich habe gegessen, geatmet, aber nicht wirklich gelebt. Ich hatte das Gefühl: Um lebendig zu sein, muss man frei sein.

Jede Sekunde ist eine Qual, jeder Atemzug fällt schwer. In der freien Welt kann man Probleme haben, aber man hat immer eine Wahl. Auch wenn man misshandelt oder gedemütigt wird, kann man woanders hingehen. Aber in Gefangenschaft ist man dem Willen, der grausamen Willkür anderer ausgeliefert.
 
Ich hatte Schuldgefühle meiner Familie gegenüber. Ich fühlte, dass ich Risiken eingegangen war, die ihnen viel Leid zufügten. Erging es Ihnen auch so?

Solche Gefühle hatte ich oft. Besonders, als es in Kolumbien hieß, es sei meine Schuld gewesen, ich hätte die Situation provoziert, um verschleppt zu werden. Das war schrecklich.
 
Beschreiben Sie Ihren Alltag in Gefangenschaft.

Wir lebten in Militärzelten. Alles war sehr militärisch. Wir waren im Dschungel – bedrohlich ... ich würde ihn als einen weiteren Feind bezeichnen. Ich bin Mitglied der grünen Partei, ich sollte alles Grüne lieben. Aber ich muss zugeben, dass ich den Dschungel einfach nur hasste. Die Bäume stehen so dicht, dass man den Himmel nicht sieht. Es ist furchtbar, keinen Himmel, keine Sonne, keine Wolken, keinen Horizont zu sehen!
 
Sie waren oft mit Ketten gefesselt. Jeder, der das einmal erlebt hat, kennt ihren schrecklichen Lärm bei jeder Bewegung, weiß, wie es ist, wenn sie sich in Hand- und Fußgelenke schneiden ...

Ja. Wissen Sie, Alan, es gibt Dinge, über die ich nicht reden kann.
 
Das verstehe ich. Ihr Vater starb einen Monat nach Ihrer Gefangennahme. Können Sie uns erzählen, wie Sie es erfahren haben und welche Wirkung das auf Sie hatte?

Einer der Gründe, weshalb ich nicht nach San Vincente [der Ort, an dem Betancour während ihrer Walkampfreise verschleppt wurde, Anm. der Red.] fahren wollte, war, dass mein Vater sehr krank war. Drei Wochen lang schwebte er zwischen Leben und Tod. Der Arzt sagte: „Íngrid, er kann morgen von uns gehen, in einem Monat oder in einem Jahr, wir wissen es nicht.“ Ich habe gebetet, dass er am Leben bleiben würde, bis ich zurück bin. [...] Ich war also im Camp, lag in Ketten, da ich gerade zum ersten Mal zu fliehen versucht hatte. Ins Camp wurde Gemüse gebracht, das in Zeitungen eingewickelt war. Ich strich die Seiten glatt, um etwas lesen zu können. Ich sah das Foto eines Priesters, der von Fotografen umringt neben einem Sarg stand. Die Bildunterschrift lautete: „Die Presse hat sich um den Sarg von Gabriel Betancourt versammelt.“ Ich sagte: „Das kann nicht mein Vater sein!“ Aber es war mein Vater.
 
Wie jeder Gefangene haben wir beide unsere Bewacher sehr gut beobachtet. Was haben Sie durch deren Verhalten über die Natur des Menschen gelernt?

Ich habe alles über die menschliche Natur gelernt. Alles. Ich war sechs Jahre gefangen. Ich habe zum Beispiel gelernt, wie schwach wir gegenüber Gruppenzwang sind, wie Leute genau das Gegenteil dessen sagen, was sie fühlen, aus Angst. Ich habe viel in der Bibel gelesen. Einer der eindrücklichsten Momente ist, wenn Petrus Jesus verleugnet. Ich habe so vieles an Petrus verstanden, genau das ist es, das ist so menschlich!
 
Religion war ungemein wichtig für Sie …

Oh ja – aber nicht Religion. Religion besteht aus Ritualen. Aber es geht um die geistliche Verbindung zu Gott. Diese Verbindung ist es, die einen zum Menschen macht.
 
Manch einer hätte gezweifelt und hätte Gott gefragt, warum er Sie, Ihre Familie und Ihre Kinder so lange und scheinbar so unnötig leiden ließ. Wurde Ihr Glaube nicht erschüttert?

Oh doch. Ich habe mit Gott ein ganzes Jahr gekämpft, weil ich so wütend auf ihn war, dass er meinen Vater fortgenommen hatte. Ich war der Meinung, ich hätte das Recht, bei ihm zu sein, wenn er stirbt. Ich war doch eine anständige Frau und verdiente es, bei ihm zu sein!
 
Ich denke, hier unterscheiden wir uns ein wenig. Ich habe vor meiner Gefangennahme nicht gebetet und hatte nicht das Gefühl, dass es richtig wäre, damit anzufangen, als ich in Schwierigkeiten war. Im Radio hörte ich von schrecklichen Dingen, die Unschuldigen angetan wurden – wie im Kongo. Und ich dachte: Wenn Gott nicht eingreift und jene kongolesischen Kinder rettet, warum sollte er das dann in meinem Leben tun? Vielleicht finden Sie das schwierig nachzuvollziehen?

Ich glaube, das Problem mit Gott ist nicht, die richtigen Fragen zu stellen. Es ist nicht Gott, der das Chaos in unserer Welt verursacht. Wir richten das Unheil an. Gott hat uns als freie Menschen geschaffen.
 
Als ich in Gaza gefangen war, hatte ich alle möglichen psychologischen Tricks und führte Selbstgespräche, um mich dunklen Gedanken zu entziehen und mich auf Hoffnung zu konzentrieren.

Sobald ich mir eingestand, dass ich lange Zeit dort sein würde, nahm ich mein Umfeld anders wahr. Mir meine Würde zu bewahren war etwas sehr Wichtiges. Ich kam an den Punkt, dass ich auf den ganzen Hass, die Grausamkeit, die Demütigungen nur noch reagierte. Ich habe aus meinem Stolz heraus mit Gewalt reagiert, aber dachte dann, nein, ich muss lernen, Dinge zu akzeptieren, meinen Mund zu halten und alles aus einer anderen Perspektive zu sehen.
 
Manchmal dachte ich, eines Tages wird das hier alles vorüber sein und ich möchte nicht zurückblicken und mich schämen.

Ja, genau das ist der Punkt. Ich dachte, dass das eines Tages meine Vergangenheit sein würde und ich oder meine Kinder sich nicht dafür schämen müssen sollten. Am Anfang schämt man sich noch nicht dafür, dass man in einer bestimmten Weise reagiert. Ich erinnere mich, wie sie mich grob behandelten und als Frau beleidigten. Ich bin darauf eingegangen. Bis ich dachte, ich will nicht auf dem gleichen Niveau reagieren. Ich will lernen, meinen Mund zu halten. Das war schwierig.
 
Manchmal allerdings kommt die Verzweiflung, wenn man glaubt, dass man stirbt. Wie haben Sie sich darauf vorbereitet?

Bei mir war das umgekehrt. Mein Körper entzog sich meiner Kontrolle. Das war nicht mehr ich. Ich hatte keinen Spiegel, um mich anzusehen, und konnte mir nur vorstellen, dass ich wohl schrecklich aussah. Ich war schockiert, als ich das erste Bild von mir und meinen Mitgefangenen sah, weil mir nicht bewusst war, dass ich so aussehe!
 
Sie sahen großartig aus, als Sie herauskamen. Die Leute waren überrascht, wie gut Sie aussahen!

Ich glaube, dass das ein Wunde war. Ich weiß nicht, wie ich vorher aussah, aber ich wusste, wie meine Mitgefangenen aussahen. Und als ich dieses Bild von uns anschaute, dachte ich: „Oh mein Gott, wir haben Engelsgesichter!“ Das Bewusstsein, frei zu sein, hat unsere Gesichter verwandelt.

Ich hatte nie Selbstmordgedanken, manchmal dachte ich, der Tod wäre eine Erlösung. Haben Sie den Tod als tiefen, alles beendenden Schlaf gesehen?

Vielleicht nicht als Schlaf, da ich ahnte, dass es schmerzhaft werden könnte. Aber ja, ich gebe zu – ich hatte Selbstmordgedanken. Was mich davon abhielt, es zu tun, war die Stimme meiner Mutter – im Radio konnten wir Nachrichten hören. 
 
Haben Sie Nachrichten Ihrer Familie gehört?

Ja, ich habe einmal meine Mutter und meinen Vater im Radio gehört und einmal konnte ich fernsehen. Das war eigenartig, von meinen Geiselnehmern umringt, meinen Vater zu sehen, wie er eine sehr würdevolle Ansprache hielt. Das war einer der bedeutendsten Momente meines Lebens.
 
Sie haben physische Gewalt erlitten. Sind Sie bereit darüber zu reden? Werden Sie es jemals sein?

Ich habe viel darüber nachgedacht und beschlossen, dass es Dinge gibt, die nie an die Oberfläche kommen sollen. Es gibt Dinge, die im Dschungel bleiben müssen.
 
Erzählen Sie uns von dem Augenblick der Freilassung, als Ihnen klar wurde, dass es vorüber ist.

Oh, mein Gott! Ich sage Ihnen, es war eine physische Reaktion. Es war so überwältigend, dass ich einen Schrei ausstieß, so als hätte ich Schmerzen, aber es war vor Freude. Ein sehr langer Schrei. Dann sah ich die Freude meiner Gefährten. Wir waren wie Kinder in diesem Helikopter und sprangen und sprangen. Ich sagte: „Hört auf zu springen, wir stürzen ab! Es sind nur noch Sekunden bis zum Flughafen, bitte bleibt ruhig!“ Wenn man so viele Jahre gefangen war und nur wenige Sekunden von der Freiheit entfernt ist, wäre es ein grausames Schicksal, wenn man abstürzte!
 
Wie hat diese Erfahrung Sie verändert?

Ich würde es als Mutation bezeichnen, nicht nur als Verwandlung. Man kann alles verstehen und man kann alles vergeben. 
 
Vergeben Sie Ihren Geiselnehmern?

Ja. Bei einigen fällt es recht leicht, bei anderen weniger. Und man muss auch denjenigen vergeben, die einen vergessen haben, die man liebte und die keinen Finger gerührt haben, um einem zu helfen. Das ist schwer. Aber auch denen vergibt man. Das wirklich Schwierige ist, sich selbst zu verzeihen.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der BBC. Das vollständige Interview ist unter www.bbc.co.uk/worldservice/ zu finden.

Aus dem Englischen von Andrea Heß



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