Der Berg der Kreuze bei Šiauliai, Litauen

von Jenny Friedrich-Freksa

Unter der Erde (Ausgabe I/2022)

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Kreuze über Kreuze findet man auf dem Kryžių Kalnas, dem „Berg der Kreuze“, nahe der litauischen Stadt Šiauliai. Foto: Gintaras Česonis


Wenn ein leichter Wind weht, klingelt, klirrt und bimmelt es überall. Über 10.000 Kreuze aus Holz, Eisen und allen erdenklichen anderen Materialien sind auf dem Kryžių Kalnas, dem „Berg der Kreuze“, nahe Šiauliai aufgestellt. Viele sind mit Rosenkränzen behängt, sie verursachen den meisten Lärm. Eine Treppe führt den Hügel hinauf in einen grauen Himmel.

Die ersten Kreuze sollen hier 1831 errichtet worden sein, nachdem Litauer bei einem Aufstand gegen das zaristische Russland gestorben waren und ihren Familien verboten wurde, ihre Angehörigen zu begraben. Nach weiteren blutigen Unruhen 1863 wurde das Aufstellen von Kreuzen verboten. Heimlich wurden aber immer wieder neue errichtet, sodass nach und nach ein Wald von Kreuzen und Kruzifixen auf dem kleinen Hügel zwölf Kilometer nördlich der Stadt Šiauliai wuchs.

Endgültig zum Symbol des litauischen Widerstands wurde der Ort in den 1960er-Jahren, als sowjetische Soldaten Holzkreuze verbrannten, Metallkreuze zu Altmetall umfunktionierten und den Hügel selbst mit Bulldozern planierten. Heute ist von den Kämpfen von einst kaum mehr etwas zu spüren. Die Kreuze sind wieder da. Der kleine Berg liegt umringt von Wiesen mit Maulwurfshügeln, man hört Menschen laut beten, irgendwo blökt ein Schaf. Der Platz wirkt wie ein Superfriedhof, dabei ist hier kein einziger Mensch begraben. Das Baltic Air Policing Department der NATO hat sich ein Goldschild errichtet, litauische Dörfer haben sich mit Gedenktafeln verewigt, und einzelne Personen segnen auf ihren persönlichen Kreuzen ihre Kinder und Enkel – und das ganze Land.



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