Manchmal kommt die Liebe später

von Assaf Gavron

Endlich! (Ausgabe I/2020)


Dem Alter trotzen – diese Idee begegnet uns in der Regel im Zusammenhang mit Cremes und anderen kosmetischen Mittelchen, die älteren Damen und auch einigen älteren Herren zu einem jüngeren Aussehen verhelfen sollen. Ich habe in den vergangenen Jahren allerdings etwas anders über den Kampf gegen das Alter nachgedacht. Denn zu sagen „Ich trotze dem Alter!“ bedeutet ja zuerst einmal, dass man das Alter als Tatsache akzeptiert. Nimmt man das Beispiel der Hautcreme, dann funktioniert diese Logik so: Alter bedeutet faltige Haut, die Creme beseitigt die faltige Haut. Aber ist das Alter – und die Bedeutung des Alters – wirklich eine so unverrückbare Tatsache?

In dem Roman mit dem Arbeitstitel „Willst du mich?“, an dem ich seit rund zwei Jahren arbeite, versuche ich, dieser starren Auffassung vom Alter etwas entgegenzusetzen. Es geht mir dabei aber weder um die „kulturelle Beschleunigung“ des Lebens, die dazu beträgt, dass die jüngeren Generationen heute oft „älter“ wirken als früher (»Mit zehn Jahren wissen sie schon, was Sex ist!“), noch um die Fortschritte in der Technologie und der Medizin, die dafür sorgen, dass uns die Alten plötzlich jünger erscheinen („Sie sind siebzig und haben immer noch Sex!“). Ich bin auch kein Freund von Floskeln wie „zwölf ist das neue zwanzig“ oder „siebzig ist das neue fünfzig“. Vielmehr frage ich mich: Haben die stereotypen Vorstellungen, die wir mit verschiedenen Altersstufen verbinden, überhaupt jemals der Wahrheit entsprochen?

In dem Buch verfolge ich die Lebensgeschichten einer Gruppe von Freunden von ihrem zehnten bis zu ihrem fünfzigsten Lebensjahr. Jedes Kapitel setzt sich mit einer anderen Lebensphase auseinander, ist in einem eigenen Stil geschrieben und dreht sich um ein bestimmtes Thema. Die mit dem Alter verbundenen Stereotypen habe ich dabei auf den Kopf gestellt.
So ist etwa das Thema Geschäftsleben und Karriere nicht in dem Kapitel von zentraler Bedeutung, in dem es um Vierzig- und Fünfzigjährige geht, sondern in dem Kapitel, das meine Helden im Alter von zehn Jahren beschreibt. Einer von ihnen, Yoav Schneider, fängt an einem Tag im Sommer kurz entschlossen an, in seinem kleinen Heimatdorf in der Nähe von Jerusalem Tüten mit gefrorenem Fruchtsaft zu verkaufen. Sein Freund Ari Zielner schlägt zurück, indem er einen Stand mit Eislutschern neben dem Basketballplatz im Dorfzentrum aufmacht. Beide profitieren davon, dass es im Dorf noch nicht einmal einen Lebensmittelladen gibt und dass der israelische Sommer so verdammt heiß ist. Und so entbrennt zwischen den Jungen ein ausgewachsener Handelskrieg, in dem sie genauso schmutzige Tricks anwenden und weltmännisch gestikulieren, wie man es von erwachsenen Geschäftsmännern vermuten würde.

„Ich will vom Alter auf eine untypische Art und Weise erzählen“

Ähnlich verhält es sich mit der Thematik des Sterbens, die ich nicht im letzten Kapitel einführe, sondern bereits viel früher. Die Protagonisten sind gerade einmal 19 Jahre alt, als Ari Zielner, der frühere Eislutscherverkäufer, als Soldat der israelischen Armee getötet wird. Im Südlibanon fährt sein Panzer auf eine Landmine. Die Trauer und ihre Bewältigung, die Nachrufe und Würdigungen, der unermessliche Schmerz, die philosophischen Fragen nach dem Sinn unserer Existenz: all das trifft hier nicht Rentnerinnen und Rentner, sondern einen engen Kreis junger Erwachsener.

Und auch die Liebe tritt in „Willst Du mich“ nicht dort auf, wo man sie vermuten würde. Also weder wie bei Romeo und Julia im zarten Teenager-Alter noch wie in vielen Spielfilmen und TV-Serien der Gegenwart im Alter zwischen dreißig und vierzig. Nein, die Liebe kommt viel später, genauer gesagt im allerletzten Teil des Buches, in dem meine Helden – in diesem Fall die Figuren Gershon und Liat – schon fast fünfzig sind. Und auch wenn es nicht ihre erste Erfahrung mit Liebe und Sex ist, so ist es doch zweifellos die intensivste und leidenschaftlichste.

Jetzt könnten Sie sagen: „Nun ja, Sie sind Romanautor, also spielen Sie mit den Erwartungen der Leserinnen und Leser, um sie zu überraschen und sie dazu zu bringen, die Welt mit anderen Augen zu sehen.“ Vielleicht beschreibe ich das Alter also nur auf untypische Art und Weise, weil ich daran Gefallen gefunden habe. Tatsächlich ist es jedoch so, dass alle der genannten Beispiele, auch wenn ich sie fiktionalisiert habe, auf realen Menschen und Begebenheiten beruhen. Die Figur des Ari Zielner basiert auf einem Jungen, der mit zehn Jahren Eislutscher verkaufte – und sich einen erbitterten Kampf mit einem anderen Jungen lieferte, auf dem die Figur des Yoav aufgebaut ist (aus Letzterem wurde in seinem späteren Leben übrigens tatsächlich ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann). Der „echte“ Ari starb später – auch das entspricht der Wahrheit – im Alter von 19 Jahren in einem Panzer im Libanon. Und auch die Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen mittleren Alters wurde vom echten Leben inspiriert.

„Viele Menschen müssen schon früh mit der Tragödie des Todes fertig werden“

Eine Frage, die ich mir derweil beim Schreiben mehrmals gestellt habe, ist, inwiefern die altersuntypischen Geschichten, die ich erzähle, nicht vor allem mit den Faktoren Ort und Zeit zusammenhängen. Immerhin ist Israel, anders als die meisten anderen Länder, immer noch in einem politisch-militärischen Konflikt gefangen, der nach wie vor viele junge Soldaten das Leben kostet. Kein Wunder also, dass die Menschen hierzulande früher sterben. Es wäre jedoch falsch, dabei von einem israelischen Problem zu sprechen. Vielmehr ist es ja so, dass Soldaten nicht nur in Israel, sondern auch in unzähligen anderen Ländern kämpfen und sterben. Und es muss ja nicht einmal der Krieg sein, der die jungen Menschen tötet: Täglich kosten Autounfälle, Bandenkriminalität, Krebs und andere Ursachen auch junge Erwachsene, Teenager und Kinder das Leben. Menschen sind schon immer jung gestorben. Es ist also keine ausnahmslos israelische Erfahrung, schon viel zu früh mit der Tragödie des Todes fertig werden zu müssen.

Ähnlich verhält es sich mit den jungen Unternehmern. Dass bereits sehr junge Menschen geschäftstüchtig sind, auch das ist kein israelisches Phänomen. Und noch viel weniger hat die späte Liebe einen geografischen oder zeitlichen Bezug. Der Mensch konnte sie schon immer überall und zu jeder Zeit finden (und machen). Wenn es eine unumstößliche Wahrheit gibt, dann diese.
Trotz all unserer Vorurteile über das Alter und die mit ihm verbundenen Lebensphasen ist es ja auch nicht so, dass wir es nicht schon lange besser wüssten. Man muss nur einmal in die Literatur schauen und stellt fest: Dass das Leben manchmal anders spielt, als wir es für „normal“ halten, wussten schon unsere Vorfahren. Lesen Sie Charles Dickens und Sie werden Kindern mit scharfem Verstand begegnen, die im England des 19. Jahrhunderts großartige Geschäfte machen. Lesen Sie Gabriel García Márquez und Sie werden etwas über alte Menschen erfahren, die sich an der Schwelle zum 20. Jahrhundert ineinander verlieben. Und was junge Leute und den Tod angeht: Sehen Sie sich Titanic an oder Filme von Coppolla und Tarantino, oder lesen Sie die Bibel, das Thema wird Ihnen überall begegnen.

Natürlich ist es unnatürlich, dass ein junger Mensch stirbt, dass ein Kind ein Finanzmagnat ist oder dass zwei Menschen im Alter von über fünfzig Jahren ihrer größten Liebe begegnen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte den erwartbaren Lauf der Dinge nicht auf den Kopf stellen. Ich möchte nicht bestreiten, dass Kinder Kinder sind, die sich mit kindlichen Dingen beschäftigen; dass sie, wenn sie größer werden, im Normalfall Bücher in die Hand nehmen und keine Waffen; dass sie ihren Lebenspartner in der Regel treffen, wenn sie um die dreißig sind; dass sie sich ein oder zwei Jahrzehnte später auf dem Höhepunkt ihrer Karriere befinden; und dass sie danach alt werden und in hohem Alter sterben. All das ist schön und nett und vermutlich das, was Menschen im Durchschnitt – sei es vor Jahrhunderten oder in der Gegenwart – eben passiert.

Doch sollte der schnöde Durchschnitt hier auch zum Normalfall erhoben werden? Ich meine, nein. Wenn wir vom Alter reden und von Altersstufen, dann sollten wir in Zukunft kreativer denken, andere Wege erschließen, uns auf die amüsanten und interessanten Pfade begeben und eben nicht auf die „normalen“. Warum sind wir nicht mal mutig und ignorieren die Klischees? Warum trotzen wir dem Alter nicht mal anders: nicht, indem wir Creme auf unsere Falten schmieren, sondern indem wir etwas tun, was man uns für unser Alter gar nicht zugetraut hätte.

Aus dem Englischen von Caroline Härdter



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