Verplante Städte

von Peter Buchanan

Großbritannien (Ausgabe I/2010)


Wer sich in britischen Städten umschaut, findet zum einen überall Zeichen des Wohlstandes: kostspielig sanierte Altbauten, aber auch zahlreiche glitzernde und meist nicht ganz preiswerte Neubauten. Vieles davon dient dem gehobenen Konsum: Boutiquen, Restaurants und Cafés, die oft zu bekannten Ketten gehören und zusammen das ergeben, was „britische Klonstadt“ genannt wird. Zum anderen wurden in den letzten Jahren viele Geschäfte und Gaststätten – insbesondere die verbliebenen eigenständigen – geschlossen. Infolge der Rezession ist das von Margaret Thatcher propagierte Ethos „Hart arbeiten und gut leben“ inzwischen von Angst und Groll ausgehöhlt worden.

An der Peripherie und außerhalb der Städte, wohin sich keine Besucher verirren, stehen die gigantischen Warenlager, welche die Konsumgesellschaft mit importierten Gütern und Lebensmitteln versorgen. Diese Verteilungsmaschinerie arbeitet zwar reibungslos, aber wie verwundbar sie ist, hat sich vor wenigen Jahren gezeigt, als den Supermärkten beinahe die Lebensmittel ausgingen, weil die Kraftstoffindustrie bestreikt wurde. Auch die innerstädtischen Armutsschneisen sucht kein auswärtiger Besucher auf, wo in gefährlichen Wohnsiedlungen mitunter in dritter Generation alleinerziehende Mütter und verrohte Kinder leben, Jugendliche sich Messerstechereien liefern und Ausbildung und medizinische Versorgung ebenso schlecht sind wie die Aussichten, eine Beschäftigung zu finden und sich in ein besseres Leben zu retten.

All das ist die ungewollte Hinterlassenschaft sowohl des Wohlfahrtsstaats, den der Thatcherismus, wenn auch aus anderen Gründen, mit aller Entschlossenheit demontieren wollte, als auch der sozialistisch-utopischen Ideale, welche die moderne Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmt haben. Zu den genannten Problemen trägt häufig in erheblichem Maße die bauliche Gestaltung der Wohnsiedlungen bei: Die einzelnen Wohneinheiten, die mitunter durchaus gut konzipiert sein mögen, sind zu Wohnblöcken zusammengefasst.

So entstehen keine Freiräume, in denen durch benachbarte Fenster und regen Passantenverkehr für Sicherheit gesorgt ist. Um sich vor den Einwohnern dieser Viertel zu schützen, verschanzen sich diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben, mit ihren neuen Häusern in abgeschlossenen Anlagen, während die Innenstädte rund um die Uhr mit dem dichtesten Überwachungskameranetz der Welt observiert werden.

So sieht nach 30 Jahren neoliberaler Wirtschaftspolitik das städtische Umfeld in Großbritannien aus. Thatchers Wirkung war mit Sicherheit enorm und nachhaltig. Manche sind heute noch der Meinung, sie habe ein Wirtschaftswunder bewirkt und ein Land, das in den schmutzigen Überbleibseln seiner imperialen Größe dahinsiechte, aus der Krise und zu neuer Stärke geführt. Dieses Wunder war aber wohl eine Illusion, die durch die Verschwendung der Erlöse aus dem Nordseeöl und der Privatisierung öffentlicher Versorgungsbetriebe ebenso genährt wurde, wie durch die Luftblase der steigenden Immobilienwerte und die massive Verschuldung von Unternehmen, Staat und Privathaushalten. Während im Laufe der letzten drei Jahrzehnte eine ansehnliche Minderheit reicher geworden ist, sind die Armen im Verhältnis stärker verarmt, weil der neue Wohlstand nicht nach unten durchgesickert ist und die gesellschaftliche und wirtschaftliche Polarisierung und Marginalisierung zugenommen haben.

Die Rezessionen, die Thatcher mit ihrer monetaristischen Politik provoziert hat, haben der gebrechlichen, aber doch lebensfähigen Industrie Großbritanniens ohne Not den Rest gegeben und einen festen Grundbestand an Langzeitarbeitslosen entstehen lassen. Man war davon ausgegangen, Großbritannien könnte mit einem deregulierten Finanzmarkt – den Gordon Brown als Finanzminister noch weiter entfesselt hat – als Dienstleistungswirtschaft in einer zunehmend globalisierten Welt erfolgreich bestehen. In Londons Finanzzentrum, der sogenannten „City“, und im heruntergekommenen Londoner Hafengebiet Canary Wharf entstanden ebenso wie in Manchester und Leeds riesige neue Hochglanzbauten. Die großen Häuser der Menschen, die dort beschäftigt waren, wurden zu Tempeln eines zur Schau gestellten Konsumverhaltens.

Gleichzeitig wurden aus den Innenstädten sowohl Stätten der Arbeit als auch Tummelplätze für Vergnügungen und den Konsum einer Exzesskultur, die sich auf Frustshoppen, Kampftrinken und Partys verlegt – verzweifelte Zerstreuungsversuche von Menschen, die hart arbeiten und Geld im Überfluss haben, das Leben aber ansonsten leer und sinnlos finden. So erklärt sich die Neigung, sich Exzessen hinzugeben, die oft in Gewalt und asoziales Verhalten umschlagen.

Der neu errungene Wohlstand in Großbritannien hat allerdings, auch wenn er sich als illusorisch und kurzlebig erweisen sollte, eine Aufwertung des öffentlichen Raums in den Städten ermöglicht. Historische Gebäude wurden vom Ruß der Jahrhunderte befreit und instand gesetzt neue Freiflächen wurden angelegt es wurden neue Kulturbauten errichtet und vorhandene ausgebaut, und über die Themse und andere Flüsse wurden sogar neue Fußgängerbrücken gebaut. Besonders seit ab Mitte der 1990er-Jahre die großzügigen Mittel der National Lottery zu fließen begannen, sind die britischen Städte munterer und fröhlicher, ja prächtiger geworden. In Verbindung mit dem kosmopolitischen Klima, das durch den Zustrom von Einwanderern aus der erweiterten EU noch verstärkt wurde, hat dies ungeachtet der beschriebenen Exzesse eine unübersehbare Aufwertung des städtischen Lebens in Großbritannien bewirkt.

Dank der Zerstreuung durch ihre Exzesskultur haben die Briten allerdings auch ein gewisses Geschick darin entwickelt, Sorgen vieler Art auszublenden. So bedient beispielsweise der „London Plan“, der zu Zeiten des vermeintlich linken Bürgermeisters Ken Livingstone und auf dessen ausdrückliche Weisungen hin aufgestellt wurde, im Wesentlichen die Bedürfnisse der Finanzdienstleistungsbranche. Dieser Plan hat die rasche Entstehung neuer Hochhäuser im Stadtzentrum von London begünstigt. Beamte und Berater, die London eine breitere wirtschaftliche Basis geben und die extreme gesellschaftliche und wirtschaftliche Polarisierung der Stadt verringern wollten, wurden einfach ignoriert.

Ebenso illusorisch ist die zweite, explizit formulierte Absicht des Plans, London zu einer beispielhaft nachhaltigen Stadt zu machen: Solange Londons Wirtschaft hauptsächlich von der „City“ abhängt, ist unerheblich, wie energieeffizient die Gebäude oder wie niedrig die CO2-Emissionen der Londoner Einwohner sind. Indem die City ihre imperialistische Vergangenheit verlängert, heizen die Praktiken des dortigen Finanzdienstleistungsgewerbes die unbändige Rohstoffausbeutung und das räuberisch-zerstörerische Verhalten an, das den Ökosystemen der Erde zusetzt.

Dabei gibt es in Großbritannien einen großen Sektor, der auf der Höhe der Zeit ist und in dem es nicht an Ideen, Können und Kreativität mangelt. In den Bereichen, die es braucht, um Nachhaltigkeit zu erreichen, ist nur Deutschland mit Großbritannien vergleichbar, und im In- und Ausland haben britische Architekten und Ingenieure mustergültige „grüne“ Projekte realisiert. Die Regierung hingegen formuliert zwar allerhand ehrgeizige und hehre Ziele ihr Handeln und die Verteilung der Haushaltsmittel bleiben aber hinter der Rhetorik zurück. So wird in Großbritannien zum Beispiel prozentual weniger Abfall recycelt als in den meisten anderen EU-Staaten.

Während man in anderen Teilen Europas dabei ist, sich aus der Rezession herauszuarbeiten, sind die Aussichten für Großbritannien so trübe wie eh und je. Um ein durch Überschuldung entstandenes Problem zu lösen, wurden massiv neue Schulden gemacht. Dennoch wird kein Versuch unternommen, den notwendigen radikalen Strukturwandel in Angriff zu nehmen, weil die Macht in den Händen derer liegt, die am wenigsten betroffen sind – Banker, die genügend Reichtum angehäuft haben, um auch schlechte Zeiten gut zu überstehen, und Politiker und Bürokraten, die sich auf großzügige, vom Staat garantierte Pensionen und womöglich auf Direktorenposten in den Banken und Unternehmen freuen können, die sie schon immer gefördert haben.

Zum Schluss aber eine aufmunternde Nachricht: Es gibt auch Abhilfe. Eine lebendige, kraftvolle Volksbewegung, die an allem Relevanten, was von oben kommt, verzweifelt, erfasst derzeit Großbritannien und darüber hinaus viele andere Teile der Welt: die Transition Town-Bewegung. Sie will die Lebensfähigkeit von Städten und Stadtgebieten durch die Stärkung ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit erhöhen, damit sie besser gerüstet sind für eine Zukunft, in der Öl und andere Ressourcen knapp und teuer sein werden und in der Lebensmittelmangel herrschen wird.

Sie fördert nicht nur die lokale Nahrungsmittelerzeugung durch Bauernmärkte, neue Kleingärten und gemeinsame Gartennutzung, sondern unterstützt auch den Ausbau von handwerklichen und anderen Fähigkeiten und hat sogar schon eigene Währungen eingeführt, um dafür zu sorgen, dass das Vermögen im lokalen Kreislauf bleibt und nicht vom Bankensys-tem abgeschöpft wird. Mittlerweile wird dieses Modell von einigen staatlichen Lokalbehörden offiziell übernommen und von manchen Politikern in der Zentralregierung befürwortet. Es ist also noch nicht alles verloren.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Siehe auch: Fred Pearce, „Die Another Day“, Seite 18



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