Mit 17 hatte ich den Kopf voller Flausen, spielte damals Fußball in Hagen, Westfalen, und wollte den Weltrekord über 1.500 Meter verbessern. Mein großes Vorbild war Hans Werner Lueg, der 1951 den Weltrekord über 1500 Meter lief, aber bei der Olympiade 1952 in Helsinki leer ausging.
Ich hatte immer das Gefühl und das Bewusstsein, ich müsste die Dinge, die mir am Herzen lagen, sofort und unmittelbar in die Hand nehmen. Beim Ungarnaufstand 1956 hatte ich im Radio die Menschen gehört, die beim Einmarsch der sowjetischen Panzer geflohen waren und den Eisernen Vorhang nach Österreich überrannt hatten. Die Gesichter von Pal Maleter und Imre Nagy brannten sich mir von Fotos und später den Wochenschaufilmen so ein, dass sie mir noch immer deutlich vor Augen sind.
Eigentlich, so dachte ich, müssten wir alle am nächsten Tag dort an die Grenze, um die Menschen zu unterstützen. Am nächsten Morgen, noch wie in Trance, ging ich den üblichen Weg zum Gymnasium und sah auf einem Aushang der „Westfalenpost“, dass es am Mittag in der Bundeshauptstadt Bonn eine große Protestdemonstration geben würde. Auf dieser Demonstration würde man eine Petition an die sowjetische Regierung verfassen.
Ich las das und machte mich – ohne einen Augenblick nachzudenken und ohne ein schlechtes Gewissen wegen des versäumten Schulbesuches zu haben – sofort auf den Weg zum Hagener Bahnhof. Ich löste eine Fahrkarte, stieg in den Zug, lief am Bonner Bahnhof den Menschen hinterher, die alle zur Hofgartenwiese gingen und hörte den berühmten Philosophen und Pädagogen Professor Theodor Litt. Der hielt eine große Rede – an das genaue Thema erinnere ich mich nicht mehr, aber ich weiß noch, dass mir in dem großen Gedränge warm wurde. Warm vor Solidarität.
Danach ging ich zu einem Verwandten, der auf dem Venusberg wohnte und ließ mir etwas zu essen geben. Mittlerweile hatte man in Hagen angefangen, nach mir zu suchen. Bei meiner Rückkehr waren meine Eltern wahrlich „not amused“. Ich gab ihnen para-evangelisch zu verstehen: Wusstet Ihr nicht, dass ich dahin, nach Bonn, gehen musste? Diese Haltung hat sich bis heute höchstens verstärkt. Ich bin immer dabei, zu überlegen, was wir jetzt, heute, unmittelbar tun könnten, um einen Notzustand zu beenden oder auch nur zu unterbrechen.
Die Zeit damals war eine große Zeit der Suche. Wir erfuhren im Schulunterricht, was alles in deutschem Namen geschehen war. Ich bewunderte den Mut der Geschwister Scholl und des Oberst Claus Graf von Stauffenberg. Die letzten Äußerungen von Claus von Stauffenberg hatte ich mir in ein Taschenbuch mit schöner Handschrift geschrieben. Ich war fest davon überzeugt, dass die NATO christliche Werte, die Werte des Evangeliums, verteidigte, bei dem, was sie auf den Kriegsschauplätzen tat. Beim Koreakrieg und dann im beginnenden Vietnamkrieg handelte es sich, da war ich mir ganz sicher, um einen dogmatischen, mit Waffen und Armeen ausgetragenen Konflikt zwischen dem Christentum und dem gottlosen Kommunismus. Ich habe jüngst noch ein wunderbares handgeschriebenes Heft gefunden, in das ich Zeitungsbilder von aktuellen Ereignissen geklebt und mit schöner gerader Handschrift als Überschrift geschrieben hatte: „Von christlich-kommunistischen Kriegen“.
Ich war mir ganz sicher zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Ich wusste, welche Partei ich zu wählen hatte, welcher ich beitreten wollte, welche Zeitung ich zu lesen hatte. Zweifel gab es nicht. Ich war fest davon überzeugt, dass Adenauer als Bundeskanzler Recht hatte, als er damals im Nachbarort Schwerte/Ruhr auftrat: „Meine Damen und Herren, wir haben nur zu wählen, zwischen Freiheit und Sklaverei. Meine Damen und Herren, wir wählen die Freiheit“.
Ich konnte mich nicht satt hören an den großen Gestalten des Widerstandes und trat in eine politische Partei ein. Das war nach allem, was ich damals wusste, nur die CDU. Weil ich noch ganz sicher glaubte, dass das eine klare und für einen Christen, einen aus Danzig vertriebenen Katholiken, die einzige politische Möglichkeit war. Erst viel später im Studium und danach wurde mir klar, dass das Leben in einer freien demokratischen Gesellschaft eines mit vielen Möglichkeiten und Alternativen, mit Respekt für andere, auch kurios Anderen und mit Toleranz für Querköpfe sein muss.